Neurologisch ist nachgewiesen, dass Menschen in Schubladen denken. Kategorisierungen helfen uns, die enorme Informationsflut, der wir ständig ausgesetzt sind, erträglich zu machen. Wie in einem riesengroßen Apothekerschrank ziehen wir die einzelnen Fächer auf, stopfen unsere Gedanken hinein und schieben sie anschließend wieder zu. Einige Label verändern sich dabei nie, andere Etiketten aber vervielfältigen wir im Laufe unseres Lebens, wenn die jeweilige Schublade voll ist. In Majid Kessabs Schubladenschrank klebt trotz seines jungen Alters bisher eine Plakette besonders oft am Holz: „Ziele“ steht in großen Buchstaben darauf. Denn schon immer waren sie es, die dem Krefelder nicht nur die Marschrichtung vorgaben, sondern ihn auch davor bewahrten, sich im Dschungel der Möglichkeiten zu verlaufen. Für das kredo-Magazin öffnet der 28-Jährige bereits verschlossene Schubfächer erneut und gibt Einblick in ihre Tiefe.
Ziel: Ankommen
Als Majid drei Jahre alt war, kam er gemeinsam mit seiner Familie als Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland. Über Umwege fand die Familie eine zweite Heimat in Krefeld und zog in das damals neuentstehende Wohngebiet am Schicksbaum. Hier vermischten sich auf der Straße die Nationen: Gemeinsam mit Jungs und Mädels aus etlichen Kulturkreisen verbrachte der Kurde seine Freizeit auf dem Basketballplatz, beim Fußballspielen oder beim Straßenhockey. Traf er außerhalb der eigenen vier Wände auf die vielfältigsten Kulturen, wurden in den eigenen Familien die mitgebrachten Bräuche gelebt. Die Kessabs sind bekennende Muslime, lieben die Traditionen ihrer Herkunft und geben alles füreinander.
Ziel: Cool sein
Schon immer war es Majid wichtig, in der Schule zu überzeugen. Schon immer lockten ihn aber auch die diversen außerschulischen Möglichkeiten, die einem kreativen Kopf nicht verborgen bleiben. Ob Schauspiel oder Sport – Majid teilte die Schulzeit mit vielfältigen Versuchungen. Eine aber hob sich schon früh ab. Standen Feste an oder drehten Cousin und Vater die Musik auf, stieg Majid schnell in den Folkloretanz mit ein. Auch bei Songs von den Backstreet Boys oder Michael Jackson blieben seine Füße nicht still „Den Jungs auf der Straße konnte ich das natürlich nicht erzählen“, sagt er heute lachend. „Ein Junge, der tanzt, war uncool.“ Seine Schwester überredete den damals Neunjährigen dann doch schließlich, sich bei Biggi Klömpkes für einen Breakdance-Kurs anzumelden. „Und da erlebte ich irgendwie Magie“, erinnert sich der heute 28-Jährige. „Ich entdeckte für mich eine ganz neue Ausdrucksart und merkte gleichzeitig, dass Breakdance und Hip-Hop als Tanzen anerkannt waren.“ Bei Schulfesten wurde Majid immer wieder gebeten, seine besondere Fähigkeit zu zeigen, und auf einmal war er bei seinen Mitschülern gerade durch sein außergewöhnliches Talent bekannt. Überzeugten andere durch gut gewählte Reden, nahm er das Publikum durch seine Bewegungen ein.
Ziel: Sprache lernen
Majid war dabei noch nie ein Mann der großen Worte. Auch wenn er durch seine diverse Medienerfahrung heute genau weiß, wie er sich auch sprachlich richtig in Szene setzt, fällt dem Beobachter doch seine Nervosität auf. Ständig bewegen sich die mit Ringen besetzten Finger oder er rutscht auf dem Stuhl hin und her. Beginnt aber die Musik, verändert sich der Blick des Tänzers, seine Bewegungen werden leicht, und die Unruhe ist schnell vergessen. Seine eigene Sprache, die des Tanzes, entwickelte sich dabei über Jahre. Vor allem aber seine Zeit im Café Oje, einer Jugendeinrichtung im Schatten des Bleichpfad-Hochhauses, prägt ihn bis heute. Hier nämlich fand er einen Raum, um nicht nur andere Tänzer kennenzulernen, sondern auch, um in Ruhe am Tanz, an seiner Sprache, zu arbeiten. „Ich habe hier nicht nur Leute gefunden, die ähnlich begeistert vom Tanzen waren wie ich, sondern die Mitarbeiter haben alles dafür getan, um uns Möglichkeiten zum Trainieren zu geben“, erzählt er. „Das war unsere Wirkungsstätte; hier konnten wir uns ausleben.“
Ziel: Sich beweisen
Schon damals begann Majid, bei Wettkämpfen, sogenannten „Battles“, anzutreten und brachte auf diesem Weg internationale Tänzer nach Krefeld. 2008 zog ihn zum ersten Mal die Hip-Hop Weltmeisterschaft in ihren Bann, und seine Liste bekam ihr vorerst größtes Ziel: Weltmeister zu werden. Ziele waren für den Krefelder noch nie reine Gedankenspiele, sondern schon immer feste Bestimmungsorte, und so waren Majids Wegbegleiter zwar total begeistert, aber nicht etwa überrascht, als er 2014 tatsächlich den Weltmeistertitel in Paris ertanzte. Nur wenige Monate später rückte ein neues Ziel in seinen Fokus, das bisher nicht auf der imaginären Liste stand: Das TV-Format „Got to dance“, bei dem er eigentlich nur aus Jux und Tollerei mitgemacht hatte, krönte ihn zum Sieger. „Die Tanzwelt versetzte das komplett in Aufruhr,“ erinnert sich der junge Mann. „Ich war nicht nur der erste Hip-Hopper mit diesem Titel, sondern tanzte auch unkonventioneller als alle anderen. Ich verstand, dass ich für viele als Inspiration galt. Das berührte mich sehr.“
Ziel: Weitergeben
2014 war für Majid ein bewegendes Jahr, denn er sahnte nicht nur öffentlich ab und wurde für sein hartes Training belohnt, sondern er gründete auch mit zwei Partnern die „Area – Urban Dance Company“, seine eigene Tanzschule in Krefeld. „Die gesamte Community gab mir als Jugendlichem so viel. Ich wollte anderen Kids die Möglichkeit geben, das zu erleben und für sich Selbstwertgefühl daraus zu ziehen“, erklärt er. „Wenn wir tanzen, spielt es keine Rolle, wer wir sind; wir sind dann eine gemeinsame Crew.“ Für Majid ist die soziale Komponente ein unverzichtbarer Rahmen: Das Miteinander, der Respekt und die Wertschätzung, die sich Tänzer unabhängig von Alter, Nationalität und Kulturkreis entgegenbringen, sind fast wie ein Zaubertrank, aus dem sich die Kreativität speist.
Ziel: Ziel
Lief es tänzerisch für Majid in 2014 extrem gut, fühlte er sich, wenn der letzte Ton der Musik verklungen war, wie ein kleines Teilchen im Weltall. Auf einmal hatte er innerhalb kürzester Zeit alle seine Ziele erreicht und die eigenen Schubladen mächtig gefüllt. Im Medienrummel und auch in der Überforderung des eigenen Erfolgs sah er keinen Raum, sich erneut zu fragen, wo die eigene Marschroute hinführen sollte. „Heute weiß ich, dass ich die Erfolge, die ich 2014 hatte, viel besser für mich hätte nutzen können“, erklärt er. „Aber mir fehlte einfach das Ziel.“
Ziel: Geschichten
Es brauchte vor allem einen Manager, um dieses Ziel wiederzufinden. Majid unterschrieb unter seiner Hand Sponsorenverträge, die ihm finanziell die Sicherheit gaben, das zu tun, was er liebte: zu tanzen. Auch Aufträge aus der ganzen Welt trudelten ein: Reiste der Tänzer für Workshops um den halben Planeten, gewann er fast nebenbei weitere wichtige Battles und sogar zum zweiten Mal die Weltmeisterschaft. „Wenn ich tanze, ist das wie Benzin und Feuer“, erklärt er. „Ich lege meine gesamte Emotion in den Tanz und fühle jede einzelne Bewegung. Dabei ist alles Improvisation.“ Und genau dadurch wird der junge Mann so authentisch: Seine sanften Bewegungen erzählen eine Geschichte. Irgendwann entstand bei Majid der Wunsch, diese Geschichte nicht nur in Battles, sondern auch auf der Leinwand zu erzählen. Als er als Schauspieler für die Joyn Produktion „Crews & Gangs“ angefragt wurde und seine erste Hauptrolle in Verbindung mit dem Tanz entstand, merkte er, dass ihn seine Erfahrungen über eine außergewöhnliche Tiefe verfügen lassen. „Als Tänzer sind wir immer schon Schauspieler gewesen“, beschreibt er.
Ziel: Tiefe steuern
Erst aber ein Engagement im Kinofilm „Fly“, der demnächst erscheint, befähigte ihn, sich diese Tiefe so richtig zu eigen zu machen. Mit deutschen Starschauspielern wie Katja Riemann oder Svenja Jung lernte er, sein Talent einzusetzen. „Wenn der Schauspieler, mit dem du spielst, gut ist, kannst du gar nicht anders, als auch gut zu spielen“, schildert er. „Die Szene wird für einen kurzen Moment Realität. Das ist das, was Schauspiel ausmacht.“ In der Story begeistert er mit Tanzparts und Dialogen gleichermaßen – immer ist sein Feuer spürbar.
Ziel: Retten
Wenn Majid über die Zukunft spricht, dann sind es gerade vor allem kleinere Ziele, die ihn antreiben. Die Eröffnung einer zweiten Tanzschule in Monheim ist geplant, auch schauspielerisch will er weiter nach oben klettern. Die Weltmeisterschaft ein drittes Mal zu gewinnen, steht ebenfalls auf dem Papier. Dann nämlich wäre Majid der erste Tänzer überhaupt, der drei Mal den Titel holte. Auch in sein Herkunftsland, den Irak, würde er gerne reisen, um Kinder aus schweren Verhältnissen zum Tanzen zu führen. „Egal, wer du bist und egal wo du stehst, hast du ein Ziel, siehst du immer Perspektiven“, beschreibt der junge Mann und schließt für heute seine eigenen Schubladen. „Ein Ziel kann dich retten. Und das Tanzen ist dafür prädestiniert.“
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