VICTÓRIA CHAMORRO REIBEL Der kleine Sandstrand „Praia da Urca“ in einer Felsenbucht von Rio de Janeiro: Ein fröhliches, vierjähriges Mädchen rudert mit kräftigen Bewegungen durch die seichten Wellen. Im nächsten Moment lässt sich die kleine Victória einfach auf dem Wasser treiben. An ihrer Seite immer ihre Eltern. Das waren die ersten Schwimmerfahrungen von Victória Chamorro. Dass sie sechzehn Jahre später als Wasserballtorhütern mit der brasilianischen Nationalmanschaft bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in ihrem Heimatland einlaufen würde, konnte damals niemand ahnen.

Ich wollte das Meer nie verlassen“, sagt die heute 27-Jährige in sehr gutem Deutsch, als wir sie zum Interview in ihrer gemütlichen Dreizimmer-Wohnung in Elfrath besuchen. Dort lebt Victória gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Bundesligawasserballer und ehemaligen Nationalspieler Ben Reibel (26), und der quirligen Mischlingshündin Luna. Auf ihrem rechten Arm prangt ein Tattoo mit den Olympischen Ringen, um den Hals trägt sie eine Kette mit der Christus-Statue. Dann erzählt sie von ihrer glücklichen Kindheit am Zuckerhut, während ihre braunen Augen leuchten: „Ich bin aufgewachsen in Botafogo. Das ist eine schöne Gegend im Herzen von Rio de Janeiro. Von unserem Balkon konnten wir die Christus-Statue sehen. Ich hatte leider keine Geschwister. Zum Glück lebten aber meine Cousins und Cousinen in der Nähe. Ich hatte auch zwei liebe Hunde. Wir waren oft am Strand, und zusammen mit meinem Vater habe ich Spiele der Fußballmannschaft ,Vasco da Gama‘ im Maracana-Stadion besucht.“ Als Victória fünf war, meldeten ihre Eltern sie zu ihrem ersten Schwimmkurs an. „Da konnte ich aber schon ein bisschen schwimmen, weil wir vorher regelmäßig am Strand „Praia da Urca“ waren. Ich hatte nie Angst, sondern fühlte mich immer zum Wasser hingezogen“, erzählt sie. Nach dem Schwimmunterricht schaute sich Victória regelmäßig das Training der Synchronschwimmer an. Sie erinnert sich: „Es sah so schön aus, und ich fragte meine Mutter, ob ich das auch machen dürfte. Mit neun Jahren war ich dann Synchronschwimmerin und nahm an Stadtturnieren und Aufführungen teil.“

„ICH WERDE IMMER
EINE CARIOCA SEIN.“

(So nennt man die Menschen
aus Rio de Janeiro.)

„Ich liebe die Dynamik beim Wasserball“ Im Alter von elf Jahren wechselte Victória innerhalb des Clubs zum Wasserball. Sie mochte zwar diese Kunst im Wasser, suchte aber etwas Dynamischeres: „In der Schule hat mir das Handballspielen immer sehr viel Spaß gemacht. Ich liebte es, Tore zu schießen und in einer Mannschaft zu spielen. So landete ich in der U12-Mannschaft des Clube de Regatas Guanabara.“ Die Eltern unterstützten ihre Tochter, fuhren sie zum Training, holten sie ab und schauten sich die Spiele an. „Sie waren meine größten Motivatoren und Fans“, sagt Victória und ergänzt: „Als ich dann Wasserball-Torhüterin wurde, war mein Vater besonders stolz, weil er früher selbst Torwart beieiner Beachsoccer-Amateurmannschaft war.“ Auch Mama Luciana freute sich über ihre sportliche Tochter. Sie selbst war in ihrer Jugend Leichtathletin. Von Brasilien über die USA nach Deutschland Sportliche Erfolge sind der Familie Chamorro also nicht fremd. Doch was ihre Tochter später als Mitglied der brasilianischen Wasserballnationalmannschaft und mit dem Team der University of Southern California an Medaillen und Pokalen sammeln sollte, sprengte den Rahmen ihrer Vorstellungskraft.

2014 verließ die 18-jährige Victória mit einem Athleten-Stipendium in der Tasche ihr Heimatland Brasilien, um in den USA Sozialwissenschaften und Wirtschaft zu studieren. An der University of Southern California (USC) in Los Angeles machte sie ihren Bachelor und spielte parallel mit anderen internationalen Athleten im Universitätsteam Wasserball. Das Team der USC ist bis heute eines der besten in den USA, und Victória wurde damit zweimal nationaler Meister. In dieser Zeit nahm sie mit dem brasilianischen Wasserball-Nationalteam an vier Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen in Brasilien teil; darüber hinaus an weiteren bedeutenden Turnieren in Südamerika und China. 2019 folgte dann der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser: Victória wurde von einem ehemaligen deutschen Teamkollegen gefragt, ob sie sich einen Wechsel nach Berlin vorstellen könnte, um die Wasserfreunde Spandau 04 Berlin für eine Saison als Torhüterin zu unterstützen. „Diese Chance habe ich gerne genutzt, weil ich dadurch die Möglichkeit hatte, auf höherem Niveau Wasserball zu spielen und erhoffte mir gleichzeitig die Möglichkeit für ein Praktikum oder eine Weiterbildung“, erzählt Victória heute. Aus Abenteuerlust wurde eine Bleibe für anderthalb Jahre.

„Wird es mir in Deutschland gefallen?“

Natürlich war der Umzug in ein fremdes Land mit Fragen behaftet: Wird es mir in Deutschland gefallen? Werde ich jemals die Sprache lernen? Wie komme ich als Ausländerin mit der Bürokratie klar? Sie erinnert sich: „Der erste Schock war das kalte Wetter. Gleichzeitig fehlte mir die Nähe zum Strand. Gewundert habe ich mich auch darüber, dass alle Läden schon recht früh schließen. Auch die Mentalität der Menschen ist anders. Die Deutschen sind zurückhaltender, was für mich aber in Ordnung ist.“ Mit einem Siegeswillen, den Victória nicht nur in ihrem Namen trägt, sondern der sie auch im Hochleistungssport prägt, ging sie die neue Sprache an, mit einem Basic-Sprachkurs und ganz viel deutschem Fernsehen. „Heute stolpere ich aber noch regelmäßig beim Wort ,Petersilie‘ und bei Umlauten wie Ä, Ö und Ü“, gibt sie zu.

Bei den Wasserfreunden Spandau lernte Victória Chamorro ihren heutigen Ehemann, den Uerdinger Wasserballer Ben Reibel kennen. Irgendwann spürten beide, dass es an der Zeit war, sich nach einem neuen Team umzusehen. „Das war 2020, zum Beginn der Pandemie. Wir beschlossen, nach Krefeld zu ziehen; so konnte Ben wieder näher bei seiner Familie sein. Außerdem wollten wir beide an unserer beruflichen Karriere arbeiten, aber trotzdem weiter Wasserball auf hohem Niveau spielen“, erzählt Victória Chamorro Reibel. Ben fand zunächst beim ASCD Duisburg und später beim SV Bayer 08 Uerdingen eine neue Heimat als Bundesliga- und Nationalspieler. Victória wechselte direkt ins Wasserball- Bundesligateam vom Waldsee. Diese Entscheidung haben beide nicht bereut.

Mit ihrem heutigen Ehemann Ben Reibel und Hündin Luna 2021 in Rio de Janeiro

„ICH BIN JEDEN TAG DANKBAR
FÜR DIE MENSCHEN UM MICH
HERUM, MEINE GESUNDHEIT UND
ALLE SCHÖNEN ERFAHRUNGEN.“

„Team-Mama“ für die Wasserballkolleginnen

Mit 27 Jahren ist Victória Chamorro Reibel heute eine der Ältesten im Uerdinger Wasserballkader. Für die Mädchen ist sie so etwas wie eine „Team-Mama“. Sie sagt: „Die Rolle der Kapitänin brauche ich nicht, aber ich liebe es, mich um die Jüngeren zu kümmern und zu helfen, wo es wichtig ist.“ Eingeführt hat sie auch dieses schöne Ritual: „Vor jedem Spiel, egal ob zuhause oder auswärts, gehen wir zusammen einen Kaffee trinken.“ Hier am Niederrhein setzten Victória und Ben dann auch die Meilensteine für ihre beruflichen Karrieren. Im Hauptberuf Wasserballprofis zu sein, kam für beide nicht in Frage, auch wegen der geringen Verdienstmöglichkeiten in Deutschland. Also schrieb sich Victória im Herbst 2020 in Mönchengladbach im Studiengang Textilund Kleidungsmanagement der Fachhochschule Niederrhein ein. Nach ihrem Bachelor- und Masterabschluss arbeitet Victória Chamorro Reibel mittlerweile als Junior-Strategieberaterin in einer internationalen Agentur in Köln und entwickelt Markenstrategien für große Unternehmen. Sollte sich in oder um Krefeld einmal die Chance ergeben, in ihrem jetzigen Job arbeiten zu können, würde sie sich darüber freuen und ergänzt: „Vielleicht könnte ich hier den Wasserballsport zu einer Marke machen.“ Ben Reibel arbeitet als Werkstudent bei einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und wird bald seinen Master in BWL machen.

„KREFELD IST MEIN
ZUHAUSE, UND DIE FAMILIE
MEINES MANNES IST MEINE
ZWEITE FAMILIE.“

„Quality Time“ mit Kochen, KEV, Spaziergengehen und Reisen

Im April dieses Jahres haben Victória Chamorro und Ben Reibel auf dem Krefelder Standesamt geheiratet und möchten irgendwann auch eine Familie gründen. Auf die Frage, was ihre „Sportler-Ehe“ ausmacht, antwortet Victória: „Wir sind beide sehr zielstrebig, sowohl im Sport als auch im beruflichen Leben. Außerdem ist Ben nicht nur mein Mann, sondern auch mein bester Freund.“ Während Victória Empathie, Energie und Spontaneität in die Beziehung bringt, steht Ben mit seinen 2,07 Metern Körpergröße oft positiv „über den Dingen“, oder, wie es Victória ausdrückt: „Mein Mann hilft mir, besser strukturiert und ruhig zu sein.“ Obwohl beide tagsüber lange arbeiten und daneben das Wasserballtraining in Uerdingen wahrnehmen, schaffen sie sich „Quality Time“, vor allem am Wochenende. „Da kann es auch mal passieren, dass wir nur relaxen“, erzählt Victória. Dazu gehören Spaziergänge mit Hündin Luna rund um den Elfrather See und Netflix- Sessions auf der großen Wohnzimmercouch. Auch auf dem Uerdinger Wochenmarkt trifft man die beiden an. „Mein Mann kocht fantastisch. Seine ,Spaghetti aglio e olio‘ und seine Cheesecakes sind der Traum“, schwärmt Victória und verrät ganz nebenbei ihre kulinarische Schwäche: „Jetzt, zur Weihnachtszeit, sind es Schokoladen-Lebkuchen und manchmal darf es auch ein Cheeseburger mit Pommes sein.“ Ihr liebstes brasilianisches Gericht ist Farofa mit Bohnen und Reis, ihr liebstes deutsches Essen Krakauer im Brötchen.

Die ganze Welt bereist

Die gemeinsame Schwäche des Sportler-Ehepaares zeigt sich in einem Stapel Fotobücher im Wohnzimme und in einer Vielzahl von Kühlschrank-Magneten mit allen erdenklichen Städtezielen: Brüssel, Amsterdam, Budapest, Athen, London… Auf einer Weltkarte im Flur haben die beiden alle Orte mit Pins versehen, die sie bis heute besucht haben. Für Wasserballturniere bereiste Victória unter anderem Hawaii, Indiana, Arizona, Toronto, Montreal, China. Ben hat als Wasserballnationalspieler immerhin einen Großteil von Europa gesehen. Nach ihrer Hochzeitsreise dieses Jahr nach Sardinien soll es im Dezember erstmals nach New York City gehen. Aber pünktlich zu Weihnachten sind die beiden wieder zuhause. „Dann feiern wir zusammen mit meinen lieben Schwiegereltern“, lächelt Victória. Ein bisschen Wehmut schwingt allerdings mit, denn wieder einmal wird sie ihre Eltern an Weihnachten nicht sehen. „Eigentlich versuche ich, jedes Jahr einmal nach Rio zu fliegen, aber das klappt wegen der weiten Strecke nicht immer. Nächstes Jahr wollen wir das aber mal wieder machen“, sagt sie und träumt sich in diesen Sekunden zurück an den Sandstrand „Praia da Urca“, wo sie als kleines Mädchen das Schwimmen erlernt hat. „Krefeld ist eine Stadt mit vielen Sportarten. Es gibt große Erfolge und Talente, auf die wir stolz sein müssten. Krefeld sollte den Sport als Quelle der Unterhaltung und als Markenzeichen sehen. Mein Mann und ich lieben die Atmosphäre bei Spielen der Krefeld Pinguine: das Vorprogramm, die Musik, die Stimmung, wenn das Maskottchen und die Mannschaften einlaufen, einfach, wie die Fans mitgehen und ihre Mannschaft anfeuern. Ich wünsche mir, dass das eines Tages auch beim Wasserball so sein wird. Aber Wasserball ist leider eine sehr versteckte Sportart, weshalb es auch nur wenige Zuschauer gibt. Es wäre toll, mehr Fans bei Heimspielen zu sehen. Immerhin wird in Krefeld Wasserball auf höchstem nationalen Niveau gespielt.“

Zuhause in Elfrath sammelt Victória nur deutsche Medaillen.
Den Rest hütet Mama Luciana in Brasilien.

Victória Chamorro Reibel über
Krefeld als Sportstadt

„Die größte Unterstützung sind unsere Familien“

Victória Chamorro Reibel spielt als Mitglied von Deutschlands größtem Schwimmverein in der 1. Bundesliga. Das Team gehört zu den besten Mannschaften des Landes, und sie sagt: „Das ist ein wirklich schönes Gefühl. Unser Team ist jung und motiviert, mit vielen Nationalspielerinnen und lokalen Talenten. Aktuell stehen wir auf Platz 3 der Bundesligatabelle.“ Auf die Frage, welche Unterstützung der SV Bayer 08 Uerdingen den Spielerinnen zuteil kommen lässt, wird die Ausnahmetorhüterin allerdings still: „Der Verein ist leider nicht in der Lage, uns finanziell stärker zu unterstützen. Wir bekommen unsere Ausrüstung, und die Kosten für Auswärtsreisen wie Hotel, Bahntickets und Verpflegung werden übernommen. Die größte Unterstützung sind unsere Familien.“

Victórias Lieblingsorte

Nach drei Jahren als Wahlkrefelderin hat Victória Chamorro Reibel einige Orte für sich entdeckt, wo man sie in ihrer freien Zeit antreffen kann. Dazu gehört die Kaffeerösterei „Beans & Sweets“ in der Uerdinger Fußgängerzone, die Hausbrauerei Gleumes, die Eisdiele „San Marco“ in Traar, der Stadtwald, der Elfrather See und der Waldsee. Für ihre neue Heimat wünscht sich Victória „mehr Events und ein kleines Café oder eine kleine Bar in Elfrath“.

Über den/die Autor/in: Petra Verhasselt

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Tags: , , , , , 0 Kommentare on Vom Zuckerhut an den WaldseeVeröffentlicht am: 15. November 2023Zuletzt bearbeitet: 20. November 20231975 WörterGesamte Aufrufe: 464Tägliche Aufrufe: 19,9 Minuten Lesezeit

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