Das Lipödem ist eine noch weitgehend unbekannte Erkrankung, die durch schwere Symptome den Alltag betroffener Frauen erschwert. Die Krefelder Lipödem Selbsthilfegruppe klärt auf und vernetzt Erkrankte.

Esther Jansen

Wir alle kennen das Gefühl, wenn vor Kummer oder Erschöpfung die Glieder schwer werden. Es fühlt sich dann so an, als könnten wir kaum mehr eine Treppe steigen, weil ein unsichtbares Gewicht an unseren Beinen befestigt ist. Frauen mit einem Lipödem haben dieses Gefühl den ganzen Tag. Doch ihren Kampf kann von außen fast niemand erahnen. Was die Menschen sehen, sind Frauen mit dicken Beinen – und die, so denkt sich das vorurteilsbelastete Gehirn, könnten ja wohl einfach mal ein bisschen mehr Sport machen – oder?

Ganz so einfach ist es leider nicht. Sport ist für Betroffene wie Ivonne Diesing praktisch unmöglich. Leichte Bewegung geht, oder Schwimmen, weil das Wasser so schön kühlt. Denn nicht nur das Gefühl der Schwere begleitet Lipödem-Patientinnen tagtäglich, sondern auch starke Schmerzen, die mit körperlicher Belastung über den Tag zunehmen. Die Hülserin hat seit vielen Jahren mit ihrer Erkrankung zu kämpfen und dachte lange, sie sei eine von Wenigen. „Ich hatte vorher kaum Kontakt zu anderen Lipödem-Patientinnen, so fehlte die Möglichkeit sich auszutauschen“, erzählt sie. „Aber während einer Reha im Sommer 2019 habe ich dann mit Unmengen von Frauen gesprochen, die dasselbe haben, und festgestellt, dass sich das Lipödem in verschiedenen Arten zeigt, und dass jede von uns anders mit der Krankheit umgeht. Und da dachte ich: Es wäre eigentlich schön, in Krefeld eine Möglichkeit zum Austausch zu haben.“

Im November 2019 gründet Ivonne Diesing die erste Lipödem-Selbsthilfegruppe in Krefeld, um Vorurteilen vorzubeugen, das Selbstbewusstsein zu stärken und über das Krankheitsbild aufzuklären. Anfangs ist tauscht sie sich mit drei anderen Frauen aus. Heute, zwei Jahre später, sind es schon 160 Betroffene, die sich hier vernetzen. Sie helfen sich gegenseitig bei Problemen mit der Krankenkasse, bei Anträgen, Alltagsherausforderungen und der Suche nach guten Behandlern.

Was ist eigentlich ein Lipödem?

Bevor wir hier wie selbstverständlich über etwas sprechen, sollten wir es erst einmal erklären. Als Lipödem wird eine chronische Fettverteilungsstörung bezeichnet, die vor allem bei Frauen auftritt – oft hervorgerufen durch hormonelle Veränderungen in der Pubertät, mit Einnahme oder nach dem Absetzen der Pille. Hierbei entstehen Fettanlagerungen in Beinen, manchmal auch in den Armen, die eine Reihe unangenehmer Symptome hervorrufen: angefangen mit den schon beschriebenen Schmerzen und Schwellungen, über extreme Druckempfindlichkeit und verhärtetes Gewebe, bis hin zu einer überdurchschnittlichen Neigung zu blauen Flecken. „Es fühlt sich an wie Blutdruckmessen, nur, dass es nicht aufhört“, beschreibt Diesing. Füße und Beine glühen wie bei einem innerlichen Sonnenbrand – und im schlimmsten Fall sorgt sogar schon die eigene Bettdecke für Hämatome. Ein für gesunde Menschen unvorstellbarer Zustand, an den sich die Mitglieder der Selbsthilfegruppe größtenteils „schon gewöhnt“ haben, wie sie selber sagen.

Die Krefelder Lipödem Selbsthilfegruppe klärt über die noch weitgehend unbekannte Erkrankung auf und vernetzt Erkrankte.
Mit Fotografin Marsha Glauch hat ein Teil der Lipödem SHG ein Fotoshooting im Landschaftspark Duisburg-Nord gemacht – Aufklärungsarbeit und Selbsttherapie in einem

Der Schmerz sei immer da. Deshalb ist für Lipödem-Patientinnen der gesamte Alltag eine Herausforderung. Haushaltsaufgaben sind schwer zu erledigen, wenn überhaupt. „Das Fensterputzen zum Beispiel habe ich längst abgegeben“, erzählt Eva Urselmanns, die seit November 2019 Teil der Krefelder SHG ist. „Bei mir ist das alles ins Rollen gekommen, nachdem ich an einem Sommertag auf der Arbeit im Krankenhaus die Treppen hochgefallen bin, weil ich meine Beine nicht mehr hoch genug bekommen habe. Die waren einfach so schwer, dass ich nicht mehr richtig laufen konnte“, erzählt die junge Frau. 

Der Kampf um Anerkennung

Wichtig ist in solchen Situationen das Verständnis der Außenwelt, doch das ist eher spärlich gesät. Ebenso wie die Aufmerksamkeit der Ärzte, so schildern es Diesing und Urselmanns. Ein besonderes Problem sehen sie in der Unbekanntheit des Krankheitsbildes. Verschiedene medizinische Ämter und Instanzen seien nicht gleich gut aufgeklärt und vernetzt, sodass es immer wieder zu bürokratischen Sackgassen für die Betroffenen kommt. Oft werden sie zunächst – wie auch auf der Straße – schlicht als übergewichtig abgestempelt. Man rät zu mehr Sport oder zu einem Magenband. Doch das hilft nicht gegen unkontrollierbar wucherndes Fettgewebe.

Eine wirklich effektive Linderung der Symptome oder gar eine Heilung der wenig erforschten Krankheit ist derzeit noch nicht oder nur schwer zu erreichen. Um durch den Tag zu kommen, sind die betroffenen Frauen auf spezielle Kompressionsstrümpfe angewiesen. Leichte Bewegung und Schmerztabletten können helfen, das Druckgefühl zu reduzieren, und eine spezielle Vibrationsplatte kann die inneren Verklebungen ein wenig lösen. Darüber hinaus stehen Physiotherapie und Lymphdrainage auf dem Plan. Diese Dinge kosten Zeit – und unter Umständen auch Geld. Denn nicht jede Krankenkasse kann den Bedarf der Patientinnen einschätzen. Viele Leistungen sind auf ein unzureichendes Maß begrenzt oder fallen vollkommen aus dem Leistungsspektrum.

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Besonders die notwendigen Kompressionsstrümpfe seien ein Streitpunkt, erzählt Eva Urselmanns. Gerade einmal zwei Stück im Jahr bezahlt ihr die Krankenkasse – bei einem täglich getragenen, körperanliegenden Kleidungsstück kann sich jeder selbst ausrechnen, wie gut sie damit auskommt. „Als ich mir eine zusätzliche Hose verschreiben lassen wollte, weil die Hygienevorschriften bei der Arbeit im Krankenhaus häufige Kleiderwechsel vorschreiben, musste ich mir anhören, ich hätte mir meinen Job ja selbst ausgesucht, und es sei mein Problem, wenn ich damit nicht auskomme“, sagt sie augenrollend. Natürlich könnte sie sich auch auf eigene Kosten weitere Hosen anschaffen. Doch dafür müsste sie gut 900 Euro auf den Tisch legen.

Die einzige Möglichkeit, ein Lipödem langfristig zu beseitigen, ist eine Liposuktion, bei der in mehreren Schritten – je nach betroffener Fläche – das kranke Fettgewebe abgesaugt wird. Eva Odoom, zweifache Mutter und Gründungsmitglied der SHG, wird bald einen solchen Eingriff vornehmen lassen. Die Übernahme der Liposuktionskosten ist gebunden an den BMI-Wert und erfolgt nur selten in voller Höhe – wenn überhaupt. Und das, obwohl die Kasse dadurch auf lange Sicht sogar Geld sparen würde: denn durch die reguläre Kostenübernahme von Lymphdrainage, Physiotherapie, der Grundausstattung mit Kompressionsstrümpfen und Co. kommt jährlich eine Summe von rund 4.000 Euro zusammen.

Arbeit und Ziele der Lipödem-Selbsthilfegruppe

Die Lipödem Selbsthilfegruppe hat also mehr als genug zu tun, neben dem privaten Austausch. Sie setzt sich aktiv für eine höhere Bekanntheit des Krankheitsbildes sowie einen respektvolleren Umgang mit Betroffenen ein. „Es gibt viel Unverständnis, weil es viel Unwissen gibt. Die Aufklärung hilft uns in der gesellschaftlichen Wahrnehmung“, findet Eva Odoom. Besonders wichtig sei es der Selbsthilfegruppe, betroffene Frauen, die noch nichts oder noch nicht lange von ihrer Erkrankung wissen, bei der Auseinandersetzung mit der Diagnose zu helfen. Denn aufgrund des vorurteilsbehafteten Umgangs mit dem eigenen Körper leben viele Frauen jahrelang unerkannt mit Lipödem. „Eine besonders wichtige Erkenntnis, die man durch die Selbsthilfegruppe entwickelt ist: Scheiß drauf, ich kann nichts dafür! Das ist schon sehr wertvoll, sich nicht dauernd fertigzumachen und sich schlecht zu fühlen, weil man denkt, man sei selber schuld an seiner Lage“, erzählt sie.

Zur Selbsttherapie und als Selbstbewusstseinsstärkungsmaßnahme haben einige Frauen der Krefelder Selbsthilfegruppe kürzlich ein großes Fotoshooting im Landschaftspark Duisburg Nord organisiert. Begleitet von Fotografin Marsha Glauch hat die Gruppe im Juli 2021 gemeinsam Bein gezeigt – aber auch jede für sich sensible Porträts schießen lassen. Für viele von ihnen war es das erste Mal vor einer Kamera. „Da sieht man auch mal, wie unterschiedlich Lipödem aussehen kann. Da sind ja wirklich Beinchen dabei, und Beinchen dabei“, lacht Ivonne Diesing. Das Shooting sei ein voller Erfolg gewesen – sowohl für die Seele als auch im Rahmen der Aufklärungsarbeit, die die Selbsthilfegruppe in Zukunft immer weiter anstrengen will.

Lipödem Selbsthilfegruppe Krefeld
www.lipoedem-shg-krefeld.de
lipoedemshgkrefeld@gmx.de

Esther Jansen

Über den/die Autor/in: Esther Jansen

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Tags: , , 0 Kommentare on Lipödem SelbsthilfegruppeVeröffentlicht am: 5. November 2021Zuletzt bearbeitet: 16. Februar 20231293 WörterGesamte Aufrufe: 633Tägliche Aufrufe: 26,6 Minuten Lesezeit

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