Vor einiger Zeit schrieb uns Melanie Struve aus der Edelstahlsiedlung über Facebook an. Sie hatte unsere Geschichtenreihe über die Entstehung von Straßennamen und Wohngebieten in Krefeld entdeckt. „Meinen Nachbarn, den Karl, den müsst ihr kennenlernen“, erklärte sie als Zugezogene in die „Zum Eisenhammer“-Straße in Lindental. „Er kennt diverse Anekdötchen und weiß alles über die Entstehung der Straßen.“ Denn Karl ist mit vier Jahren in die Edelstahlsiedlung gezogen und lebt heute, 84 Jahre später, noch immer dort. Gemeinsam mit Melanie und seiner Tochter Bärbel, die dringend als Übersetzerinnen bei unserem Termin gebraucht wurden, hat Karl Mollnau im feinsten Krefelder Platt sein Erinnerungsalbum für uns geöffnet.
Ein Zuhause für Arbeiterfamilien aus dem Edelstahlwerk
Als Karl mit wenigen Jahren auf der Lebensuhr gemeinsam mit seiner Familie in den ersten Bauabschnitt der Siedlung zog, galt das 1936 begonnene Bauprojekt als außergewöhnlich: Eine so große Arbeitersiedlung gab es bislang in Deutschland fast nicht. Auch deswegen war das Interesse der Arbeiter des Deutschen Edelstahlwerks hoch. 100 Familien wurden im Rahmen des ersten Bauabschnitts ausgewählt und durften in die neue Siedlung ziehen. „Damals kostete der Quadratmeter 75 Reichspfennig“, erinnert sich der 88-Jährige. „Für das Haus mussten die Familie also insgesamt 7.894 Reichsmark zahlen. Das war eine Menge.“ Rund die Hälfte der Häuser wurde dabei direkt an die Arbeiter verkauft, die andere Hälfte wurde zwischen weiteren verlost. Heute erinnern an den ursprünglichen Prozess alte Namensschilder, die noch an unsanierten Gebäuden vorhanden sind. „Die, die kauften, hatten diese Namensschilder. Die, die über das Los an das Haus kamen, nicht“, erklärt Karl. „Meine Familie kaufte.“ Eine Woche des Monatslohns verblieb dafür beim Edelstahlwerk. Monatlich zahlten die Familien die insgesamt drei Hypotheken ab.
Karls Kindheit: Bettelarm, aber gemeinsam
„Die, die dann in die Siedlung zogen, waren alle gleich: nämlich bettelarm“, erklärt Karl. „Und doch war meine Kindheit in der Siedlung toll.“ Wenn Karl an die jungen Jahre seines Lebens denkt, dann hat er Betten aus Stroh und Holz im Kopf, Plumpsklos ohne Abwasserkanäle, schmutzige Hände von der Garten- und Vieharbeit und unzählige Kinder. Denn jede Familie, die hier lebte, war groß. Auch Karl teilte vor dem Krieg mit insgesamt drei Geschwistern und den Eltern das Haus. Die Kinder waren dabei fest zur Mithilfe eingeplant. Mit dem Einzug erhielt jede Familie Obstbäume und Nutzgartenfläche, aber auch ein Schwein, fünf Hühner und fünf Kaninchen. Hatten Karl und seine Geschwister das Vieh morgens versorgt, ging es zu Fuß in die Josefschule. Auf den Straßen schlossen sich die Kinder zusammen und liefen in ihren schweren Holzschuhen gemeinsam die rund zwei Kilometer zur Innenstadtschule. „Im Sommer trugen wir Klepperkes und im Winter Klompen. Dadurch waren wir als Arbeiterkinder zu erkennen“, erklärt er und seine Tochter übersetzt schmunzelnd: „Das eine sind Holzschuhe, die vorne offen sind, und das andere sind geschlossene Holzsandalen. Für mehr reichte das Geld nicht.“ Am Nachmittag trafen sich die Kinder am gegenüberliegenden Kinderhort oder bei der Hitlerjugend.
Der Krieg in der Edelstahlsiedlung
Ja, der Krieg bestimmte auch Karls Leben. Als irgendwann ein Militärflieger in unmittelbarer Nähe zu seinem Elternhaus abstürzte und dabei vier der Siedlungshäuser mitriss, machte er sich mit seinen Freunden auf, um das Flugzeug zu plündern. Die Jungs erbeuteten Zigaretten, Schokolade und Waffen. Sie waren gerade einmal elf Jahre alt. Sind es die Abenteuer, die abseits der Kriegsschauplätze lagen und noch heute Karls Augen zum Glänzen bringen, gibt es auch solche Erinnerungen, bei denen er ins Stocken gerät. Karls Mutter verstarb an Diphterie und die Familienkonstellation änderte sich danach. Karl bekam eine neue Mutter und vier weitere Geschwister dazu und fühlte sich im Familienverbund nicht mehr gewollt.
Auch aus den Erzählungen seiner vor kurzem gestorbenen Frau, ebenfalls einem Kind der Edelstahlsiedlung, kennt er die schlimmen Kriegsgeschichten. Die Nazis zwangen seine spätere Schwiegermutter, die im dritten Bauabschnitt lebte, Uniformen zu nähen. Irgendwann rollten die Panzer durch die Straßen rund um den „Eisenhammer“ und das Haus, in dem Karl später mit seiner Familie lebte und in dem er heute noch immer wohnt, wurde von englischen Truppen besetzt.
Die Straßennamen
Als die Truppen irgendwann abzogen, viele Väter nicht zurückkamen und genauso viele Familien neue Väter bekamen, veränderten sich auch einige Straßenschilder in der Siedlung. War im Bau das Gebiet doch sehr von den Nationalsozialisten beeinflusst worden, wurden die daran erinnernden Straßennamen nach Beendigung des Krieges ausgetauscht – so zum Beispiel die Straßen „Goldrad“ und „Werkschardank“. Prinzipiell sind die unterschiedlichen Bauabschnitte aber auch heute noch an ihren Straßennamen zu erkennen. Im ersten Bauabschnitt zum Beispiel befinden sich mit Straßen wie „An de Plank“ und „En Et Bennert“ ausschließlich Namen in Krefelder Platt. Der dritte Bauabschnitt dagegen greift ausschließlich Namen aus der Arbeitsumgebung des Werks auf. Hier zieren Wortkonstellationen wie „Zum Schmelzergang“, „Arbeitsfrieden“, „Formerweg“ oder eben „Zum Eisenhammer“ die Straßenschilder.
Gemeinschaft heute
Veränderte sich nach dem Krieg viel, wurde die Gemeinschaft in der Siedlung nur noch stärker. Bis heute wird gemeinsam Sommerfest gefeiert, viele Jahre wurden Ernteköniginnen gekürt oder Traditionen wie Sankt Martin gemeinsam gelebt. „Auch wenn Alteingesessene wie Karl erzählen, dass der Siedlungscharakter früher noch fester war, erlebe ich als Zugezogene schon, dass die Gemeinschaft hier stärker ist als in anderen Wohngebieten“, beschreibt Melanie Struve, die durch eine Lücke in der Bepflanzung zurück vom Nachbarn auf ihr Grundstück geht. „Das sieht man doch an dieser Stelle schon“, sagt sie und lacht: „Ich glaube nicht, dass es noch viele Siedlungen gibt, in denen man so zu Besuch kommt.“
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