Als Krefelder Engel kümmern sich Bernd und Regina Oertel um die Versorgung wohnungsloser und verarmter Menschen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln.

Eine kleine, alte Frau beugt sich über einen öffentlichen Mülleimer. Sie sucht darin mit der bloßen Hand nach etwas Essbaremmitten in Krefeld. Fast alle haben so etwas schon erlebt. Die meisten schauen zuerst ungläubig hin – und dann erschüttert wieder weg.

Für Bernd Oertel, der es an der Mevissenstraße beobachtet hat, war die Situation jedoch ein Schlüsselerlebnis. Und er tat etwas anderes als wegzuschauen: „Ich habe die Frau angesprochen und ihr ein Frühstück ausgegeben. Und danach habe ich gedacht: Ich will Menschen helfen, die aus Mülleimern ihr Essen oder Pfandflaschen herausholen müssen,“ erzählt der 66-Jährige.

Als Krefelder Engel kümmern sich Bernd und Regina Oertel um die Versorgung wohnungsloser und verarmter Menschen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln.

Das war vor drei Jahren, als sich Bernd Oertel gerade selbst in einer kritischen Phase befand. Weil er an COPD erkrankt war, musste er seinen Beruf als Kraftwagenfahrer aufgeben. Aber von nun an als Frührentner die Hände in den Schoß zu legen, kam für den umtriebigen Mann nicht in Frage. 1994 war er zusammen mit seiner Frau Regina und vier Töchtern aus Halle nach Krefeld gekommen. Sowohl Bernd als auch Regina Oertel haben ihr Leben lang gearbeitet. Sie sagt rückblickend: „Wir hatten immer viel zu tun und haben lange gar nicht mitgekriegt, wie vielen Menschen es hier in der Stadt richtig schlecht geht.“

Das Ehepaar schloss sich der damals schon existierenden privaten Gruppe „Krefelder Engel“ an, die sich um die Obdachlosen vor der Lutherkirche kümmerte. Und machte voller Tatkraft und Unternehmungsgeist in kürzester Zeit aus den „Engeln“ einen eingetragenen, „mildtätigen“ Verein, „um Obdachlose, Bedürftige und auch deren Tiere zu versorgen, damit sie nicht hungern müssen, und um ihnen das Leben ein bisschen zu erleichtern,“ wie Bernd Oertel das Ziel der „Krefelder Engel“ beschreibt.

Keine Berührungsängste

Entschlossen nahmen die Oertels und ihre acht Mitengel Kontakt zu Bäckern, Bauern, Konserven-, Getränke-, Kosmetikproduzenten und sogar einem Tierfutterhersteller aus der Region auf und baten um Spenden. Die sie von vielen der angesprochenen Firmen und Geschäftsleuten auch bekamen; vielfach sogar als regelmäßige Zuwendung. „Brot kriegen wir frisch, aber es sind auch Lebensmittel, bei denen das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Die kann man nicht mehr verkaufen, aber wenn die Kühlkette nicht unterbrochen wird, kann man sie noch drei Monate benutzen,“ erklärt Regina Oertel. Die frühere Bürokauffrau kümmert sich um sämtliche Büroarbeiten, die Buchhaltung und die Logistik. Während ihr Mann mit einem günstig geliehenen Kleinbus an mindestens fünf Wochentagen von früh bis spät unterwegs ist, um bei den Spendern die Waren abzuholen und ins Lager an der Hardenbergstraße zu bringen, zu verstauen und an den Ausgabetagen zu verteilen. Manche Spender bringen die Waren auch selbst vorbei. Aber das ändert nicht viel am Aufwand. „Das ist ein Vollzeitjob! Wenn ich abends nach Hause komme, bin ich komplett durch. Manchmal denke ich: Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen,“ sagt Bernd Oertel. Seine Frau nickt, aber dann lächelt sie und betont: „Ja, aber mit diesem Stress können wir leben, und wenn wir das hier nicht täten, ging´s uns auch nicht gut!“

Großer Bedarf trotz Tafel, Caritas und Co.

Etwa 150 Personen sind es, die regelmäßig dienstags und freitags von 10 bis 14 Uhr bei den „Engeln“ Lebensmittel, Getränke, Kleidung, Elektrogeräte, Möbel, Spielzeug oder auch Tierfutter abholen. „Hochgerechnet versorgen wir mehrere hundert Menschen. Die, die kommen, nehmen ja auch Sachen für ihre Angehörigen mit,“ berichtet Bernd Oertel. Viele sind schon alte Bekannte, die die Helfer mit Vornamen kennen. Bei einigen fällt aber auch eine große Zurückhaltung auf. Etwa bei einem jungen, dem Augenschein nach obdachlosen Mann, der trotz Sonnenschein zwei Kapuzen übereinander trägt, oder einer alten Dame mit mehreren Taschen, die kein einziges Mal den Blick hebt.

Scham und Einsamkeit

„Ja, viele schämen sich, zum Beispiel die Senioren mit sehr wenig Rente,“ weiß Bernd Oertel. Aber das gibt sich meist, und sie fassen Vertrauen. Denn sowohl die Oertels als auch die übrigen acht „Engel“ haben Verständnis für sie, sind sie doch zum Teil selbst Menschen, die Erfahrungen mit Armut, Krankheit oder anderen schwierigen Lebensumständen haben. Dabei verteilen sie nicht nur Lebensmittel oder andere Waren für den täglichen Gebrauch. Regina Oertel sagt: „Wir sind auch eine Anlaufstelle für Menschen, die einsam sind. Hier kann man sich auch mal unterhalten und sogar lachen. Vor Corona haben wir oft gekocht, gegrillt oder Kaffee und Kuchen angeboten, da sind die Omis richtig gerne gekommen. Hoffentlich geht das bald wieder!“ Dann berichtet sie von einem Rentner, dem die „Engel“ vor wenigen Tagen als Geburtstagsüberraschung einen Präsentkorb überreicht haben: „Er hat geweint und gesagt, ‚Ihr wisst gar nicht, wie ihr mir helft.‘ Er ist über 80 und hat 130 Euro zum Leben!“ Einen Moment lang wird Regina Oertel ganz still, dann fügt sie leise hinzu: „Das ist unser Lohn. Ich weiß, dass die Leute uns hier brauchen.“

Neben verarmten Rentnern kommen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Obdachlose; es sind Deutsche, Russen, Tschechen, Polen, Türken, Rumänen und andere, die von noch weiter her stammen. Die „Engel“ haben keine Vorurteile und behandeln jeden, der kommt, mit Respekt und Wertschätzung. Das erwarten sie aber auch umgekehrt. „Die Leute sollen freundlich sein, den Anstand wahren und nicht schimpfen. Sonst müssen sie wieder gehen,“ zählt Regina Oertel die Regeln auf.

Als Krefelder Engel kümmern sich Bernd und Regina Oertel um die Versorgung wohnungsloser und verarmter Menschen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln.

Ehrenamtlich

Keiner der zehn „Krefelder Engel“ bekommt einen Cent für das ganze Engagement. Sie arbeiten ehrenamtlich. Ganz umsonst geben sie den Hausrat, die Lebensmittel, Getränke, Kosmetika, Kleider oder das Tierfutter ihren Schützlingen trotzdem nicht. Bei jedem Ausgabetermin können die Bedürftigen Waren im Wert zwischen 30 und 50 Euro mitnehmen – genau lässt sich das nicht sagen, weil auch viele gebrauchte Sachen, die von Privatleuten gespendet werden, dabei sind. Dafür zahlen Erwachsene zwei Euro, Kinder 50 Cent. Abgegeben werden die Waren nur an diejenigen, die Kopien von Bescheiden über ihre Renten-, Sozialhilfe- oder ALG II-Bezüge mitbringen. Das alles muss dokumentiert und dem Finanzamt vorgelegt werden. Viel bürokratischer Aufwand, den Regina Oertel erledigt. Deshalb ist sie meistens im kleinen Büro in der Ausgabestelle, während ihr Mann zusammen mit den anderen Helferinnen und Helfern unermüdlich draußen und in der Ausgabe beschäftigt ist. Beispielsweise Anna, die seit 2019 freundlich und konzentriert am Anmeldeschalter arbeitet. Oder Doris, die die Backwaren ausgibt, weil sie „sich nach 50 Jahren Arbeit weiter nützlich machen möchte und den Zusammenhalt unter den Leuten toll“ findet. Eine Kollegin, die ihren Namen nicht nennt, hat am Tag unseres Besuchs sogar selbst Geburtstag. Dass sie trotzdem vier Stunden bei den „Engeln“ in der Lebensmittelausgabe steht, ist für sie selbstverständlich.

Immer knapp bei Kasse, keine Unterstützung von der Stadt

Aber all dieses ehrenamtliche Engagement reicht nicht, um die laufenden Kosten für die Lagerhallen, die Kühlräume und den Transporter, mit dem die „Engel“ die Spenden abholen, zu decken. „Dafür nehmen wir die Schutzgebühr von den Bedürftigen; wir haben zwar wirklich Glück mit unserem Vermieter, der uns das Gebäude und auch den Wagen günstig überlässt. Aber trotzdem ist es finanziell immer so knapp, dass wir nicht wissen, wie lange wir noch weitermachen können,“ sagt Bernd Oertel, der immer mal kurz ins Büro kommt, bis er zur Arbeit wieder herausgerufen wird. Regina Oertel seufzt: „Ohne Hilfe schaffen wir es nicht! Wir bräuchten ein eigenes Fahrzeug, so viel wie wir hin- und herfahren müssen.“

Viele der Menschen, die zu den „Engeln“ kommen, benötigen dringend Elektrogeräte wie Herde, Kühlschränke oder Waschmaschinen. Und auch wenn das für die Helfer viel Arbeit und Zeit bedeutet, freuen sie sich, wenn ausrangierte, funktionsfähige Geräte gespendet werden. „Viele der Leute haben selbst keine Möglichkeit für den Transport. Dann bringen wir ihnen die Sachen halt nach Hause,“ erklärt Bernd Oertel, und: „Das muss man wissen, wenn man bei uns anfangen und mitmachen will: Ein ‚Engel‘ muss voll hinter der Sache stehen und hart mitarbeiten, sonst hilft uns das nicht. Ein bisschen helfen geht nicht.“

Als Krefelder Engel kümmern sich Bernd und Regina Oertel um die Versorgung wohnungsloser und verarmter Menschen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln.

Was sehr helfen würde, wäre ein Sponsor, der regelmäßig einen Zuschuss zu den laufenden Kosten gewährt. Aus Geldnot musste der Verein kürzlich schon einen der Lagerräume kündigen und die Waren im verbliebenen Raum übereinanderstapeln. „Wenn wir 500 Euro im Monat dazubekämen, das wäre schon sehr gut für uns,“ sagt Bernd Oertel. Dann könnte der Verein in diesem Winter vielleicht sogar verwirklichen, was er schon letztes Jahr gemeinsam mit der Krefelder Initiative „Mein Name ist Mensch“ auf die Beine stellen wollte: einen Kältebus. Um mit Suppen, Tee und Kaffee zu den Stellen zu fahren, wo Obdachlose draußen frieren. Damit sie sich wenigstens mit einer Kleinigkeit zum Essen oder Trinken aufwärmen könnten. Letzten Winter scheiterte das an den Kosten und an mangelnder Unterstützung von Seiten der Stadt. Als sie das erzählt, wird die sonst so ruhige, freundliche Regina Oertel ein wenig ungehalten: „Es wird so viel Geld rausgeworfen, und für diese gute Sache, für die Mitmenschlichkeit, gibt es nichts? Da läuft was schief!“

Natürlich gibt es im Sozialstaat Deutschland das offizielle Narrativ: Verhungern muss hier keiner. Auch die Ärmsten werden mit dem Nötigen versorgt. Schaut man sich jedoch in der Krefelder Innenstadt und an den vielen anderen sozialen Brennpunkten in der „Seidenstadt“ um, sieht man viel Verelendung und Verwahrlosung. Es gibt sehr viele Menschen, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben, keinen Platz, keinen Lebensmut und keine Ansprache mehr haben. Wer kümmert sich um sie? Bei den „Krefelder Engeln“ jedenfalls gibt es für sie unbürokratische Hilfe, Verständnis und Herzenswärme.

Die alte Frau, die auf der Mevissenstraße den Müll durchsucht hat, kommt auch immer noch.

Krefelder Engel e.V.
Hardenbergstr. 93, 47799 Krefeld;
Mail: krefelderengelev@gmail.com
www.krefelderengelev.wixsite.com/website
Tel. 0179-41277484 (Bernd Oertel)
Spendenkonto IBAN: DE60320500000003173002

Über den/die Autor/in: Bettina Heymann

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Tags: , , , 0 Kommentare on Die „Krefelder Engel“ packen anVeröffentlicht am: 20. September 2021Zuletzt bearbeitet: 16. Februar 20231667 WörterGesamte Aufrufe: 625Tägliche Aufrufe: 18,6 Minuten Lesezeit

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