Es ist das Jahr 1933. An der Ecke Hochstraße / Adolf-Hitler-Straße, dort wo heute die Rheinstraße ist, hat Rudolf Hirsch das Schuhgeschäft seines Vaters nach der Weltwirtschaftskrise ganz nach vorn gebracht. 30 Angestellte arbeiten hier und verkaufen die besten Waren. Als am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler gewählt wird, ändert sich das Leben des jüdischen Kommunisten schlagartig. Nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 überfallen SA-Leute Hirschs Laden und zerstören alles. Sie sind sich sicher, Waffen beim Feind zu finden, aber stoßen stattdessen nur auf Kamelhaarpantoffeln. Und dennoch entscheidet sich der Bedrohte nur wenige Zeit später dazu, aus der Seidenstadt zu fliehen.
Geschichte zu jeder Zeit abrufbar
Während sich ein leichter Regenfilm über die Krefelder Innenstadt legt, verschwimmen das blau-gelbe Schild und die moderne Auslage des Schuhhauses Grüterich. Auch der Straßenlärm wird leiser, als die Kopfhörer den neuen Audiowalk des Werkhauses in Zusammenarbeit mit der NS-Dokumentationsstätte abspielen. Dramaturg und Journalist René Linke erweckt gemeinsam mit Historikerin Claudia Flümann, Anja Jansen vom Werkhaus und Sandra Franz als Leiterin der NS-Dokumentationsstätte unter dem Titel „Doch nicht bei uns in Krefeld“ die Zeit zwischen 1933 und 1945 wieder zum Leben. „Im Rahmen der sozikulturellen Projekte in Krefeld haben Sandra Franz und ich Anfang des Jahres überlegt, wie wir jüdische Geschichte in Krefeld niederschwellig erlebbar machen können“, beschreibt Anja Jansen. „Daraus ist das Audioprojekt entstanden.“ Die Idee: Niemand ist auf Zeiten angewiesen, um sich einer Führung durch Krefeld anzuschließen oder die NS-Dokumentationsstätte zu besuchen. Stattdessen kann unkompliziert über eine App und die Webseite der Institutionen der Audiowalk abgerufen werden. „Egal wann, er ist verfügbar“, sagt Franz. „Das ist der große Gewinn.“
Claudia Flümanns Recherchen lieferten die Vorlage
Rund um die Recherche hat sich die NS-Dokumentationsstätte bekannte Hilfe mit ins Boot geholt. Als Historikerin widmet sich Claudia Flümann seit vielen Jahren beispielhaft der Aufarbeitung des Dritten Reichs in Krefeld. Auf fast 700 Seiten veröffentlichte sie 2015 das Buch „Doch nicht bei uns in Krefeld“, bei dessen Entstehung sie vom Krefelder Stadtarchiv und der NS-Dokumentationsstätte unterstützt wurde. Hier gab sie ausführliche, historisch belegte Einblicke in die Arisierung, die Enteignung und die Wiedergutmachung in der Samt- und Seidenstadt von 1933 bis 1963. Für die Vorbereitung des Audiowalks stieg sie nun noch einmal tief in die Recherche ein. „Wir haben überlegt, zu welchen Orten in der Innenstadt wir anschauliches und natürlich verifiziertes Material finden können“, erklärt die Krefelderin. „Bedingung war, dass diese Orte nah aneinander liegen. Gleichzeitig wollten wir aber auch unterschiedliche Protagonisten und Ebenen der Verfolgung darstellen.“ Denn, betont die Historikerin, an der Enteignung der Geschäftsleute in Krefeld war nicht nur die Verwaltung, sondern auch Berufsverbände oder Banken beteiligt. Die Reduzierung der Informationen wirkt dabei als natürlicher Verstärker. „Wir können im Audioformat nicht alles darstellen“, beschreibt sie. „Wichtig ist, dass wir die historischen Fakten hörbar machen.“ Und dafür kam René Linke dazu.
Linke: „Wir müssen aus der Vergangenheit lernen.“
Gleichzeitig Journalist und Dramaturg verwob Linke die historischen Fakten mit dem Heute. Er schafft es dadurch, den Hörer in eine besondere Dreidimensionalität zu führen: Immer wieder erzählen die Sprecher von damals, nehmen das Heute durch zum Beispiel die anschauliche Beschreibung der Stadtkulisse mit auf und verbinden diese Bilder mit historischen Fakten. „Durch einen tiefen Blick in die Vergangenheit haben wir heute die Chance, aus dem Vergangenen zu lernen“, sagt Linke energisch. „Wer sich nicht damit beschäftigt, bleibt doof. Wir müssen diesen Teil unserer Geschichte immer wieder thematisieren.“
Für Schulen und Interessierte soll es ein Begleitprogramm geben
Im App-Store und auf der Webseite des Werkhauses ist die Audiotour kostenfrei und für jeden abrufbar. Sandra Franz von der NS-Dokumentationsstelle bietet zukünftig noch Begleitmaterial an. „Bei einer Audiotour fehlt natürlich die Kommunikation“, beschreibt die Historikerin. „Wir möchten aber mit Menschen ins Gespräch kommen. Das kann dann in der Villa Merländer oder dem Südbahnhof geschehen.“ Franz kann sich zum Beispiel vorstellen, gemeinsam mit Klassen den Audiowalk zu begehen und anschließend im geschützten Raum über die eigenen Gedanken und Erfahrungen zu sprechen. „Wenn unsere Stadt für die Hörer der Audiowalktour am Ende eine andere Dimension bekommen hat“, schließt sie ab „haben wir unser Ziel erreicht.“
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