Brechen wir uns ein Bein, dann schient der Arzt es mit einem Gips. Der dicke Verband schützt unsere bereits beschädigten Knochen vor weiteren Verletzungen, gibt aber auch gleichzeitig jedem Beobachter zu verstehen, dass hier gerade eine Ausnahmesituation vorliegt. Sie reagieren in der Regel mit Wohlwollen und Rücksichtname. Anders verhält es sich mit einer verletzten Seele. Wir können sie nicht dick in ein Pflaster einpacken und so darauf hinweisen, dass gerade etwas nicht stimmt. Nur der genaue Beobachter stellt Veränderungen an unserem Verhalten fest, die einen vorsichtigen Hinweis auf unsere akute Verletzung geben. Oft folgen dann aber leider flapsige Sprüche wie „Das wird schon wieder“ oder „Ist doch gar nicht so schlimm“, die Hilflosigkeit oder, schlimmer noch, Unverständnis suggerieren.
Markus „Pille“ Peerlings kennt diese Sprüche. Wie oft musste er sich in den letzten Tagen vor unserem Besuch Ende Juli dafür rechtfertigen, warum der Biergarten „seiner“ Kulturrampe noch nicht aufgebaut sei, obwohl die Coronazahlen doch nun deutlich zurückgehen würden. „Ich habe gerade einfach keine Kraft mehr“, erklärt der Geschäftsführer der Kulturinstitution. „Ich weiß, dass das auch wieder besser werden wird, aber im Moment geht’s einfach nicht.“ Würde er gegen die Dunkelheit ankämpfen, so kennt er die Beschaffenheit seiner Seele gut genug, würde sie sich nur noch weiter ausbreiten. Denn Pille hat das schon erlebt: Licht und Dunkelheit bestimmen seinen Werdegang.
Das erste Mal kam die Dunkelheit als er ein junger Mann war. Immer, so weiß der heute 50-Jährige, folgt sie auf besonders schönes Licht. Damals erlebte Pille eine tolle Zeit in der Schreinerausbildung. Arbeit fühlte sich nicht nach Arbeit an. Täglich liebte er den Gang zu seinem Lehrmeister und baute Möbel und kreative Individualarbeiten aus Passion. Aber irgendwann wurden die günstigen Möbelhäuser immer beliebter, und die Schreinereiaufgaben veränderten sich. Statt Kreativarbeiten bestimmten stupide Aufbauarbeiten seinen Arbeitstag. Pille verlor den Spaß an dem, was er tat. „Und das ist der erste Schritt. Mein Körper gerät dann in eine Abwärtsspirale“, beschreibt er seine Depression.
Erst setzte die Appetitlosigkeit ein. Fünf Nahrungsmittel konnte er nur noch zu sich nehmen: Joghurt, Kartoffeln, Schokolade, Käse und Bier. Anschließend folgte die Schlaflosigkeit. Immer weiter, Schritt für Schritt, zogen die Schatten in ihn ein und nahmen ihn irgendwann so gefangen, dass er nicht mehr reagieren konnte. „Heute habe ich gelernt, dass das ein natürliches Warnsystem meines Körpers ist. Ich bin dafür sehr dankbar“, beschreibt er und fährt sich mit der Hand durch den Bart. „Das ändert aber nichts daran, dass es dich total vom Hocker haut.“ Beim ersten Mal so stark, dass Pille nicht mehr alleine hochkam. Der Tod eines guten Freundes gab ihm den Rest. Als Panikattacken einsetzten, wendete er sich an Spezialisten und stellte nach einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik die Lebenspläne wieder zurück auf null. Mit einem neuen Plan, oder besser gesagt, keinem Plan, fand er zurück zum Licht. „Ich schaute einfach, was mir vor die Füße fiel und hörte auf meinen Bauch. Was mir Spaß machte, sollte bleiben“, erinnert er sich.
Und da landete auf einmal ein Restaurant vor seinen Chucks, das dringend einen neuen Pächter suchte. Pille wurde in Gladbach zum ersten Mal Gastronom. „Ich lernte hier zum Beispiel, wie viel Spaß mir der Kontakt mit Menschen macht“, schildert er. „Was sie zu erzählen haben, wie unterschiedlich sie sind, Menschen faszinieren mich einfach total.“ Pille lernte auch zu gestalten. Er verwirklichte seine Wünsche, hauchte die Speisekarte zum Beispiel ein bisschen irisch an und sonnte sich in der Schönheit des Lebens. Arbeit war das für ihn nicht – alles also im Lot, dachte er. „Aber irgendwann reichte das Geld nicht mehr“, erklärt Pille. „Ich musste das Restaurant schließen.“ Die Schatten deuteten sich an. „Aber ich hatte ja mein Alarmsystem“, sagt er schmunzelnd und greift zu einer Zigarette. „Ich ließ mich treiben; das half.“
Und schon kurze Zeit später geriet so ein neuer Nicht-Plan auf den Radar. Pille jobbte als Hausmeister und betreute Proberäume auf dem Großmarkt. Er selbst liebte schon immer die Musik. Er verbrachte seine gesamte junge Erwachsenenzeit im Krefelder Jazzkeller, klimperte zu Hause und im Proberaum auf Gitarre und Bass und trieb sich in Musikerkreisen herum. „In einer Bierlaune beschlossen wir mit ein paar Freunden, dass Krefeld noch eine Kulturinstitution brauchte“, erinnert er sich. „Wir träumten von einer Location, in der viele und bunte Konzerte stattfinden.“ Gottseidank trank ein Freund an diesem Abend zu wenig Bier, um den Plan wieder zu vergessen. Am 9. Februar 2006 öffnete die Kulturrampe auf dem Großmarkt auf Vereinsinitiative, mit Pille als Geschäftsführer. „Es war klar, dass ich das mache“, sagt er grinsend und spielt mit den Fingern an seiner Zigarettenpackung. „Es war ja sonst keiner da, der sich mit so wenig Geld zufriedengab.“
Geld war Pille eben noch nie wichtig – viel wichtiger aber dafür die Passion. An keinem einzigen Tag der nächsten 14 Jahre sollte Pille diese vermissen. Aus der Kulturrampe wurde für ihn ein Ort, geschwängert von Licht. Ob mitten in der Nacht als Hobbypsychologe an der Theke oder als Booker von internationalen Bands am Rechner. Ob als engagierter Bühnenhelfer oder als leidenschaftlicher Fan. Ob als kurzfristiger Toilettenreiniger oder als Partyausrichter – die Kulturrampe strahlte für ihn jeden Tag. „Ich liebe das, was ich hier tue“, erklärt er. „Ich könnte so viele Momente aufzählen, die mich geprägt, die mich inspiriert oder berührt haben. Das hier ist einfach total mein Ding.“ Ein besonderes Erlebnis verbindet er zum Beispiel mit der Band „Timesbold“. Einer der Musiker setzte sich mit einer singenden Säge an den Bühnenrand. Als er zu spielen begann, zog eine unsichtbare Welle durch den kleinen Raum. So nah am Publikum verstummten die wenigen Nebengespräche, und die Blicke richteten sich auf die Bühne. Die Situation ging durch Mark und Bein. „Ich habe immer noch nicht verstanden, was der Grund dafür ist, aber die Rampe hat eine besondere Magie“, erklärt Pille. „Das merken auch die Musiker. Sie erinnern sich nach vielen Jahren noch an ihre Auftritte hier.“ Bis zu 50 Booking-Anfragen am Tag rauschten zu normalen Zeiten bei Pille im Mail-Postfach ein. Und dann kam Corona.
Und in Pilles Gefühlswelt ging das Licht aus. Erst flackerte die Glühbirne noch mit letzter Kraft, irgendwann aber wurde aus ihrem müden Leuchten ein mattes Glimmen, dann Dunkelheit. „Im März letzten Jahres haben wir noch gedacht, dass das schnell vorbeigeht“, erinnert sich der 50-Jährige. „Aber irgendwann war es egal, ob ich meine Mails heute oder morgen schrieb. Ich hatte das Gefühl, dass gar nichts mehr Sinn machte.“ Mit Corona ging die Tagesstruktur. Zwar schloss Pille jeden Tag die Rampe auf und versuchte durch Sanierungsarbeiten und Outdoorkonzerte, zum Beispiel mit und im Schlachtgarten, sein Kulturprogramm am Leben zu halten, die äußeren Rahmenbedingungen aber drückten ihn zunehmend nach unten. „Auch wenn mein inneres Warnsystem anging, konnte ich an der Situation ja nichts ändern“, sagt er. „Wir sind als Veranstalter komplett abhängig von der Gesetzgebung.“ Irgendwann hallten die Alarmsirenen in Pilles gesamten Körper immer wieder von Zelle zu Zelle. Die Essstörungen kamen zurück. Die Schlafstörungen waren wieder da. Und die Dunkelheit wurde so schwarz wie nie zuvor. „Ich habe an manchen Tagen wirklich gedacht, dass ich es zu Ende bringe“, sagt er tonlos und greift zu einer weiteren Zigarette. „Aber auch das wäre nicht richtig. Ich glaube ja eigentlich daran, dass wieder Licht kommen wird.“
Pille ist der festen Überzeugung, dass niemand über Tod und Leben richten darf. Aber auch seine Frau und sein Pflegekind geben ihm Stärke. Und natürlich würde er auch die Kulturrampe nie im Stich lassen. „Ich hatte vor Corona eigentlich den Plan, hier langsam etwas kürzer zu treten“, beschreibt er. „Für mich war das ein gutes Gefühl, und ich wäre im Positiven gegangen. Jetzt muss ich erstmal schauen, dass es wieder positiv wird.“ Wenn es ihm besser geht, so sagt er bestärkend, wird er die Kulturrampe wieder auf die Beine bringen und dann „einfach mal gucken“. Aber so weit ist er gerade noch nicht. „Am meisten ärgere ich mich über mich selbst“, sagt er und nimmt erneut einen tiefen Zug seiner Kippe. „Weißte, jetzt habe ich die Rampe so halbwegs durch den Corona-Dschungel geführt, und jetzt fehlt mir einfach selbst die Kraft, aufzumachen. Und dass ich das dann auch alles immer wieder vor anderen erklären muss.“ Nichtdestotrotz, so ist er sich sicher, weiß er, dass am Ende alles gut werden wird – auch, wenn es gerade vielleicht noch Zeit braucht. Denn, das hat Pille in den letzten 50 Jahren gelernt: Auf die Dunkelheit folgt immer das Licht.
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Ein zufälliger Beitrag aus unserem Fundus:
Der Text wirkt auf eine sehr besondere Weise: in Stil und innerer Haltung….
Beides hängt so innig zusammen, wie es eines meiner Mottos ausdrückt: Dass der Stil der Mensch selbst sei (“Le style c’est l’homme même”; Buffon).
So hat sich die Form in dieser subtilen Erzählung, mit ihrem Inhalt, der Hauptfigur, auf individuelle Weise zusammen gefunden – gleich einer kleinen Novelle, wie sie als “e i n e unerhörte Begebenheit” Heinrich von Kleist bestimmt hat:
Über diesen so besonderen Menschen hat eine erkennbare besondere Autorin geschrieben. Danke!
Dr. Jürgen Naeher-Zeiffer, Familien- & Körpertherapeut, Autor, DGEV e. V. Krefeld