„Ich versuche gerade, an allen Ecken zu helfen“, sagt Daria, sichtbar erschöpft, aber genauso motiviert. „Ich lasse da gerade gar nicht so richtig Emotionen zu, weil ich die ganze Zeit nur am Arbeiten bin. Wenn ich nicht arbeite, fange ich auch an zu viel zu denken.“ Dass mein Gespräch mit der 26-Jährigen so aussehen würde, habe ich vor einigen Wochen, als ich beschloss, sie fürs kredo zu interviewen, noch nicht geahnt. Aufgefallen ist mir Daria auf Instagram als Grafikerin, die mit gesellschaftskritischen Designs, ihrer verspielten Prägnanz der Formen und wenigen, kräftigen Farben aus der Masse bunter Bildchen herausstach. Oft ließen mich die frechen Statements auf ihren Grafiken schmunzeln. In den letzten Tagen machten sie mich nachdenklich. Denn Daria setzt ihr kreatives Talent seit gut einem Monat unermüdlich für die vom Krieg Bedrohten in der Ukraine ein. Während wir als Außenstehende fassungslos aber distanziert die Nachrichten verfolgen, muss Daria aus der Ferne mitansehen, wie Putins Bomben in ihrem Heimatland einschlagen.
Wer ist Daria?
Daria wurde 1995 in Kiew als Kind einer Akademikerfamilie geboren – der Vater, ein Chemiker, hat russische Wurzeln, die Mutter, Ingenieurin für Kernkraftenergie, ist jüdische Ukrainerin. Mit siebeneinhalb Jahren bekommen Mutter, Vater und Tochter die Gelegenheit, wie vorher schon die Großeltern, über das Kontingent-flüchtlingsprogramm nach Deutschland überzusiedeln. Sie landen in Unna, wo Darias Eltern eine Unterkunft für Flüchtlinge beziehen, während das kleine Mädchen bei ihren Großeltern in Herten leben kann. Als die Eltern sich scheiden lassen, zieht sie mit ihrer Mutter nach Recklinghausen.
Zum Studieren kommt Daria 2014 nach Krefeld und findet im Kommunikationsdesign ihr berufliches Zuhause. Mit Vorbildern wie Gustav Klimt, dessen Spiel mit den Proportionen sie fasziniert, Marija Prymatschenkos, deren Mut zur Farbe sie beeindruckt und Frida Kahlo, deren politischer Blick auf die Kunst sie inspiriert, entwickelt Daria schnell ihren ganz eigenen Stil. „Weil ich eigentlich nicht gut zeichnen kann, habe ich mir Wege gesucht, wie Fehler, falsche Perspektiven oder Proportionen, richtig wirken und cool aussehen“, verrät sie lachend. Im Job sucht sie bewusst nach anspruchsvollen Themen. „Ich mag es, wenn ich Kunden habe, die ein Problem lösen, zum Beispiel im Bereich Bildung und Awareness.“ Privat widmet sie sich regelmäßig politischen und gesellschaftlichen Themen, allen voran dem Feminismus. In diesem Zuge entwickelte die Wahlkrefelderin ihren ursprünglich cleanen Schwarz-Weiß-Stil zur rosa-roten Farbästhetik weiter, gespickt mit Elementen in strahlendem Blau und Gelb – was nicht ganz zufällig die Nationalfarben der Ukraine sind.
Kindheit am Dnepr
Daria trägt ihr Heimatland noch immer im Herzen. Die Gastfreundschaft der Menschen dort, die Kulturaffinität ihrer Familie, das Gemeinschaftsgefühl prägen sie bis heute. An die ersten sieben Lebensjahre in Kiew, sagt Daria, habe sie gefühlt mehr Erinnerungen als an die wesentlich längere Zeit danach. Naturspaziergänge, Frösche gucken, Beeren sammeln, am Fluss sitzen. Ellenlange U-Bahnfahrten, Kulturprogramm mit den Großeltern. Kiew, sagt sie, sei eine wunderbare Stadt, mit weitläufigen Parks, Aussichtsplattformen und Statuen auf grünen Hügeln, Prachtbauten und vielen Kulturstätten. Dazwischen, breit und ruhig, der Dnepr.
Fast zehn Jahre ist es her, dass Daria zum letzten Mal vor Ort war. Eigentlich hatte sie vor, all diese Kindheitserinnerungen dieses Jahr endlich ihrem Freund zu zeigen. Bis zum 24. Februar.
Tunnelblick und Schwarzer Humor
Putins Angriffskrieg zerreißt das ukrainische Volk. Die Frauen und Kinder gehen, die Männer kämpfen, die Greisen bleiben zurück. Darias Großtante und deren zwei Söhne sind noch in Kiew. Die Großtante zu alt, um ihre Heimat zu verlassen, ihre Söhne im wehrfähigen Alter und somit ohne Ausreise-Erlaubnis. Genau wie viele Kindheitsfreunde. „Die sind alle nicht trainiert, waren vorher was ganz anderes und sind trotzdem bereit für ihre Stadt einzustehen, falls es soweit kommen sollte“, erzählt sie kopfschüttelnd. Die Leute in Kiew erzählen wenig am Telefon, die meisten begegnen der Situation mit Tunnelblick und schwarzer Humor. „Die sagen dann sowas wie ‚Die Tante XY sitzt am Fenster und zählt die Panzer auf der Straße oder die Löcher in den Häusern. Wir müssen ja irgendwas machen‘.“
Darias Familie vor Ort gehe es glücklicherweise noch gut. Anderen Freunden und Bekannten in Kiew werde langsam die Medizin knapp. Und damit sind sie noch ganz gut dran. „Kiew ist relativ sicher, die haben noch geöffnete Supermärkte, die kommen noch an was zu Essen. Der Präsident ruft auch aktiv dazu auf, arbeiten zu gehen, damit es irgendwie weitergeht und die Menschen nicht komplett in Angst verfallen. In Mariupol verdursten und verhungern Leute“, beschreibt Daria. Mit jedem Satz mischt sich mehr Wut in ihre Stimme. „Putin sagt, er will das russischsprachige Volk retten. In Mariupol, in Odessa, in Charkiw ist hauptsächlich russischsprachiges Volk, das jetzt verdurstet und an Bombenangriffen stirbt – also: Wer wird bitte gerettet? Inzwischen höre ich aus meinem ukrainischen Umfeld sogar, dass Leute aus Mariupol nach Russland deportiert werden. Wo die hinkommen, was mit denen passiert, weiß keiner so genau.“
#handsoffukraine
Mit der Ukraine-Krise hat Daria ihr bisher emotionalstes und anspruchsvollstes Thema aufgegriffen. Seit Beginn des Kriegs beschäftigt sie fast nur noch die Frage, wie sie selbst helfen kann. Als Designerin setzt sie vor allem auf ihre Kreativität, baut Guides, teilt externe Inhalte in ihrer Story, fasst die eigenen Emotionen in Bild und Text zusammen, um Menschen zu motivieren, selbst Hilfe anzubieten oder zu spenden.
An ihrem IPad tüftelt die 26-Jährige unentwegt neue Grafiken aus. Vor knapp zwei Wochen postet sie eine spitzdornige Kastanie unter einer blutenden Hand, die versucht hat, sie zu zerdrücken mit dem Hashtag #handsoffukraine. „Die Kastanie ist ein Symbol für Kiew, weil dort super viele Kastanienbäume wachsen, und wenn du im Frühlings kommst, blühen die alle und du läufst unter einem Dach aus Kastanienblüten“, beschreibt Daria liebevoll. Auch den Trysub, einen stilisierten Dreizack, das Wappen der Ukraine, baut sie in ihre Postings ein. „Darin findet sich das Wort ‚Freiheit‘“, erklärt sie und zeichnet die Buchstaben auf ihrem IPad nach. „Freiheit ist ein sehr wichtiges Thema für die Leute, besonders seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Die Freiheit, selber zu entscheiden, was man möchte, eine eigene Kultur zu haben. Das ist auch für russischsprachige Ukrainer relevant. Meine Familie war immer russischsprachig, aber natürlich sind wir Ukrainer.“
Zwischen Infoposts und Welcome Point
Wenn sie nicht am IPad sitzt, um Informationen zu sammeln und aufzuarbeiten, hilft Daria am Welcome Point im Krefelder Hauptbahnhof. Sie trifft junge Leute, die schnellstmöglich wieder eine Art Normalität aufbauen wollen. Zum Beispiel eine junge Pharmaziestudentin, vollkommen übernächtigt und mit der großen Angst, nicht weiterstudieren zu können. Und sie trifft viele Mütter, die mit aller Kraft Erschöpfung und Trauer vor ihren Kindern verstecken. „Die sind so gefasst und stark, sie versuchen, alles für die Kleinen wie ein cooles Abenteuer wirken zu lassen“, sagt Daria traurig. Im Reden schwankt ihre freundliche raue Stimme zwischen den Emotionen.
„Ich bin frustriert, ja. Ich schlaf´ nicht vernünftig, und die Müdigkeit wirkt sich langsam auch aus“, gibt sie zu. Ihre berufliche Arbeit schiebt Daria nach Möglichkeit in den Morgen, damit sie möglichst früh anfangen kann, an verschiedenen Stellen zu helfen. „Ich bin enttäuscht, dass es bei vielen so aussieht, als wäre die Ukraine-Hilfe ein Hype für sie gewesen – einmal Demo, einmal Foto machen und das war´s.“ Es gibt Tage, da lässt Daria diese Verärgerung in ihre Arbeit einfließen, da schwingt Zynismus in ihren Texten mit. Zum Beispiel, wenn sie ausgefragt wird, wo die nächste Demo ist und ob es in einer völlig fremden Stadt Ukraine-Facebookgruppen gibt. „Da denke ich mir ‚Leute, googelt es einfach!‘, ich weiß doch auch nicht alles. Was ich poste, ist das, was ich heraufgefunden habe und selber unterstütze. Ich freue mich, wenn ich damit Leuten helfen kann. Aber ich würde mir wünschen, dass die Leute auch mal eigenständig auf die Suche gehen“, sagt Daria.
Ich finde: Sie hat recht. Wir besitzen alle ein Handy. Wir alle können uns informieren. Wir können alle etwas tun – und dabei unsere persönlichen Stärken einsetzen.
Instagram: @iamdaria.ai
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