Den Odeon Tanzpalast zu betreten ist, als würde man binnen Sekundenbruchteilen vom vertrauten Bordstein der Moerser Straße ins Innere eines gigantischen 80er-Jahre-Kreuzfahrtdampfers gebeamt werden. Oder sind es die frühen 20er? Und ist es vielleicht gar kein Kreuzfahrtschiff, sondern doch die Moulin Rouge in Paris? In jedem Fall lässt der Anblick der Eventlocation im Haus Blumental dem offenen Mund ein unwillkürliches „Wow“ entweichen: Die roten Wände mit mintgrünen Holzvertäfelungen und vielen Spiegeln, die amtliche Bar, die verspielten Art-Deco-Leuchten und das große Tanzparkett werden nur noch übertroffen vom überdimensionalen Discokugel-Deckenschmuck inmitten des Saals. In dieser Kulisse kommen am letzten Maiwochenende insgesamt elf Bands und Solokünstler zusammen, um zum allerersten Mal seit vielen Monaten auf einer Bühne zu stehen. Und vor der Kamera.
Ein Mashup gegen den Corona-Blues
Für sein neustes Projekt hat sich Filmemacher Daniel Boderke bewusst viel vorgenommen. Zum einen, begnadeten Krefelder Musikerinnen und Musikern eine Art Auftrittsmöglichkeit zu geben. Zum anderen, so vielen Menschen wie möglich die Vielfalt der lokalen Musikszene zu illustrieren. Der Düsseldorfer spielt selbst seit vielen Jahren in der Akustik-Coverband „Glasgow Kiss“, die sich bereits einen festen Platz im Jazzkeller-Kalender erspielt hat. Nicht nur „Sammy“, wie Daniel Boderke gerufen wird, sondern auch seinen Bandkollegen fehlte das gemeinsame Musizieren während der Pandemie ungemein. Genauso wie den vielen befreundeten Musikerinnen und Musikern, deren Instrumente verstaubten und Stimmen nur noch durch Masken zu hören waren. Wie viele gute Projekte fing auch Daniels als waschechte Schnapsidee an: Geselliger Abend, einige Drinks, viele „Was-wäre-wenns“ – und eins davon bleibt hängen: Was wäre, wenn man ein großes Genre-Mashup produzieren würde? Als professioneller Filmemacher wittert Daniel im Rahmen eines Corona-Kulturstipendiums seine Chance und entwickelt eine Projektidee, die neben der Aufnahme eines gemeinsamen Songs auch ein passendes Musikvideo (siehe unten) vorsieht.
Ein Drehtag beginnt…
Mit Glasgow Kiss startet gut ein halbes Jahr später der erste Drehtag: dezente, warme Lichtkegel beleuchten die vier Männer in weißen Hemden auf der sonst dunklen Bühne. Die Band scheint eingeschlafen zu sein vor Corona-Langeweile. Als erster erwacht Schlagzeuger Christian Gorissen und trommelt sanft den Beginn des internationalen Nummer-Eins-Hits „Blinding Lights“ von „The Weeknd“. Mehr Licht, das Banjo steigt ein, Gitarre und Bass – und dann vier sanfte Stimmen. „I’ve been tryin‘ it all. I’ve been on my own for long enough, maybe you can show up soon again, maybe…”
Ein Hit neu aufgelegt
Den Text des amerikanischen Pop-Hits, der spätestens seit der Super Bowl Halftime Show 2021 jedem ein Begriff sein wird, hat Daniel leicht abgewandelt, um ihn an die Situation und Gefühlswelt der Musikerinnen und Musiker anzupassen: Es geht um Unsicherheit, Bühnenentzug und die Hoffnung, bald endlich wieder im Rampenlicht stehen zu dürfen. Leider hat jede Band nur ein paar Takte Platz in dem dreieinhalbminütigen Stück – gerade genug, um einen Eindruck ihrer musikalischen Identität zu vermitteln.
Musiker und ihre Bühne
Dass Musiker die Bühne brauchen wie eine Redakteurin ihre Tastatur wird deutlich, als sie sie nach und nach wieder betreten: Es wird getanzt, geklatscht, geheadbangt. Die einen trällern, die anderen shouten, wieder andere lassen den Rock ’n’ Roll raus – sie alle verbindet ein ansteckender Enthusiasmus. Während die Postrock-Band Construction Set sich cool und mysteriös präsentiert, drehen die Salonpunker von SMOT während ihres Parts komplett frei. „Silja, du bist `ne geile Sau“, platzt es begeistert aus Bassist Andi heraus, als er später gemeinsam mit der SMOT-Frontfrau das Videomaterial auf dem Monitor anschauen darf.
Ein musikalisches Stimmungs-Mosaik
In Vorbereitung des Projekts haben alle Bands ihre Parts im Studio eingespielt, die am Drehtag in Dauerschleife aus den vier großen Deckenlautsprechern dröhnen. Daniel hat es geschafft, für sein Projekt Vertreter denkbar verschiedener Genres zu gewinnen: angefangen bei den klassischen Sopranhöhen von Sängerin Maike Gomm über die frechen Polka-Rhythmen von Jeck United bis hin zum entspannten senegalesischen Sound von Haware.
Alle Bands im rechten Licht
Aus dem Grund ist es, anders als befürchtet, auch kein Problem, denselben Song zwei Tage in Dauerschleife zu hören. Während die Radiosender sämtliche Ohren mit The Weeknds Originalversion müdegespielt haben, versprüht jede der elf Krefelder Varianten ein ganz neues Gefühl. In Szene gesetzt von Lichttechniker Gero, der aus 52 Scheinwerfern für jede Band eine individuelle Stimmung hervorzaubert, entsteht beinahe Festivalfeeling. Auch Daniel, der sich mit seinem gleichnamigen Düsseldorfer Kollegen in Regie und Kameraführung abwechselt, ist sichtlich zufrieden. Je mehr Takes im Kasten sind, umso breiter grinst er in die Making-Off-Kamera.
Ein Drehtag endet
Als nach dem finalen Rap-Part von Dustin Otto am Sonntagabend das letzte „Danke, war super“ durch den Odeon Tanzpalast hallt, haben 39 Paar Füße die Bühnenstufen erklommen, um mit dem kleinen Filmteam auf dem Tanzparkett des Odeon ihr erstes Publikum seit Monaten anzuspielen. Man wünscht sich, die begnadeten elf Bands und Künstler mit mehr Bühnenzeit auf einem Festival zu sehen. Freiwillige Organisationstalente vor – kredo übernimmt die Medienpartnerschaft.
Das Video – 11 Bands, 1 Song
Mitgemacht haben: Glasgow Kiss (Unplugged), Construction Set (Alternative), Haware (World Music), SMOT (Salonpunk), Schäng Blasius Flönz Rakete (Polka), Jeck United (Karnevalsmusik), Trio Subito (Klassik), Lewinsky (Heavy Metal), Planet Five (Pop), DJ Carsten Plank (Elektro), Dustin Otto (Hip Hop)
Spenden für die Musiker: Die Mitwirkenden würden sich über eine Spende an das unten angegebene PayPal-Konto freuen. Die so generierte Unterstützung geht direkt an die mitwirkenden Musiker. Weitererzählen ausdrücklich erwünscht! Spendenkontakt via Paypal an musikerspende@i-motion.tv
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