Das idyllische Dorf am Rheinufer ist gewichen, sein Gotteshaus steht immer noch: Nahezu umschlungen von Industrie erzählt die Kirche St. Matthias in Hohenbudberg von längst vergangenen Tagen. Während der Standort bereits im 12. Jahrhundert urkundliche Erwähnung findet, wurde der Sakralbau im neugotischen Stil 1854 geweiht.

Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die so genannte Epoche der Romantik, in der die Menschen sich angesichts der stets wachsenden Industrialisierung in längst vergangene Zeiten zurücksehnen, ist in vollem Gange. Zudem ist seit der französischen Besetzung des linken Rheinufers der imposante Strom als Grenzfluss zum Identitätsstifter für ein gesamtdeutsches Nationalbewusstsein und zugleich zum Erholungsziel schlechthin geworden.

So wundert es uns Nachgeborene nicht, dass das Interesse an alten Gemäuern und unvollendeten Bauten in Ufernähe immer größer wurde. Insbesondere dann, wenn nach einer anfänglichen Großinvestition in einen Neu- oder Weiterbau – selbstredend in zeitgemäßer Attraktivität – mit erheblichen Einnahmen zu rechnen war, zum Beispiel durch zahlreiche Pilger, die Buße mit Muße zu vereinen suchten. Daher besonnen sich Stadt- und Kirchenobere wie Architekten und Bauherren auf die stilistischen Eigenschaften der mittelalterlichen Gotik, um mit deren Neuinterpretation die Denkart und den Geschmack ihrer Mitmenschen zu treffen.

St. Matthias_Hohenbudberg
St. Matthias steht noch immer – eine Kirche ohne Dorf.

Wer nun an den Weiterbau des Hohen Doms zu Köln denkt, liegt absolut richtig, braucht jedoch als Seidenstädter die Fahrt rheinaufwärts gar nicht erst anzutreten, um ein prominentes Zeugnis der Neugotik zu finden. Einerseits in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rhein, der an den ständigen Fluss der Zeit zu mahnen scheint, andererseits nahezu umschlungen von Schloten, Rohren und Fabrikhallen, steht sie da wie eine sakrale Trutzburg, die uns zuflüstert „…und ich stehe immer noch!“: die Kirche St. Matthias in Hohenbudberg.

Ein Dorf mit geschichtsträchtigem Boden

St. Matthias_Hohenbudberg
Heiner Schmitz

„Als ich ein Kind war, tobte rund um die Kirche das Dorfleben“, berichtet Heiner Schmitz vom Aufwachsen um das und mit dem Gotteshaus. Es ist mit der Geschichte seiner Familie eng verbunden, schließlich war sein Ur-Ur-Großonkel Hermann Jakob Schmitz, der über fünf Dekaden das Amt des Pfarrers von Hohenbudberg innehatte, 1851 die treibende Kraft hinter dem Neubau „im gotischen Stil“. Drei Jahre später erfolgte die Weihe des Gebäudes in der Ansicht, wie wir sie kennen. Der erste Beleg für eine Kirche an diesem Standort reicht hingegen bis in das Jahr 1150; der Ort selbst geht nachweislich bereits auf eine römische Siedlung zurück. „Heute ist St. Matthias eine der nördlichsten Glaubensstätten des Bistums Aachen“, weiß Heiner Schmitz zu erzählen und deutet auf die andere Uferseite gen rechtsrheinisches Duisburg. „Dort drüben fängt schon das Bistum Essen an, ein paar Straßen weiter nördlich, in Rheinhausen-Friemersheim, endet das Bistum Münster. Ein regelrechtes Bistumsdreieck ist das hier“, lacht der Uerdinger Arzt und Kirchenvorstand der Pfarrei St. Nikolaus, zu der Hohenbudberg gehört. Und als ob das noch nicht ausreichen würde, weist er flussaufwärts: „Ein paar Kilometer weiter unten, in Meerbusch, ist schon das Bistum Köln.“ Man ahnt es bereits: Um eine Kirche mit so charmanter Lage haben über die Jahrhunderte hinweg einige Bischöfe gebuhlt, mal hatte Essen-Werden das Sagen, mal stand man auf kurkölnischem Boden. Im 17. Jahrhundert war das Dorf aufgrund des Kirchenpatrons, des Heiligen Matthias, sogar Wallfahrtsort für Gläubige, denen die Reise zum Trierer Grab des Apostels zu weit war. Deren nicht unerhebliche Opfergaben konnten zwei Priester ernähren. Die mit Sicherheit in örtlichen Schenken stattgefundenen Ausgaben lassen sich heute natürlich nur vermuten.  

St. Matthias_Hohenbudberg

Die Industrie rückt näher

Als sich 1877, nur wenige Jahre nach der Fertigstellung des neugotischen Gotteshauses, die Chemische Fabrik Weiler-ter Meer, der Vorläufer des Bayer-Werks, am Uerdinger Rheinufer niederließ, begann sich langsam das Bild des landwirtschaftlich geprägten Dorfes zu ändern. Immer mehr Bewohner zählte es, und mit ihnen kamen Geschäfte, Schulen und Ausflugslokale. „Hohenbudberg war für Krefelder die Sommerfrische“, erinnert sich Heiner Schmitz, dessen Familie das Gartenlokal Schmitz Neppes betrieb, und er beschreibt weiter: „Sogar eine Straßenbahn fuhr bis kurz vor den Haupteingang der Kirche. Da, wo jetzt der große Parkplatz ist, befand sich ein Hof, aber auch ein Kindergarten stand hier und eine Turnhalle, in der unser Kanuclub untergebracht war.“ Mit dieser Turnhalle verbindet er viele Kindheits- und Jugenderinnerungen: „In ihr war auch das Baulager für die Karnevalswagen. Was haben wir als Jungen gelünkert, um einen Blick auf sie zu erhaschen! Später haben wir dort auch selbst Karneval gefeiert – und wie!“

Noch 1950 zählte Hohenbudberg gut 2000 Einwohner mit offenkundig regem Vereins- und Gemeindeleben. So ging es bis in die Mitte der 1960er Jahre, bis der Bedarf an Fläche für das Chemiewerk immer größer wurde. Ein Haus nach dem anderen wurde zu diesem Zweck geräumt und abgerissen, die Menschen waren gezwungen, ihren Ort zu verlassen. Auch die achtköpfige Familie Schmitz. „Als wir 1974 gingen, zogen mehr als zehn Prozent der Einwohner weg“, führt der Ur-Hohenbudberger an. Was er mitnahm, waren die Erinnerungen: an die Kirchstraße, deren letzte Meter noch heute zum Portal von St. Matthias führen und an deren Eckkneipen, an die Bäckerei Lambertz, bei der man sich nach Schulschluss durch das Läuten der handgezogenen Mittagsglocke die „Kröskes“ vom Blechkuchen verdienen konnte, an die jährliche Kirmes. „Immer am ersten Juli-Wochenende fand sie statt, und diese Tradition haben wir bis vor drei Jahren weiterleben lassen“, sagt Heiner Schmitz. „Dann kam Corona.“

Das Gotteshaus am Rheinufer hat viele Unruhen erlebt, Schäden durch Krieg und Erdbeben wurden immer wieder behoben. Es wird auch der Pandemie und den derzeitigen Erschütterungen der katholischen Kirche trotzen – und ist als standhafter Rest des verschwundenen Rheindorfs Hohenbudberg inmitten der Industrieriesen allemal einen Besuch wert.

 

 

St. Matthias
Kirchstraße, 47829 Krefeld

Öffnungszeiten: Sonntag: 18 Uhr, Hl. Messe. Täglich von 10 bis 17 Uhr ist das Kirchenportal geöffnet. Anfragen für Kirchenführungen können an das zentrale Pfarrbüro der Pfarrei St. Nikolaus gerichtet werden: Telefon 02151-480186 oder per Mail: gemeindebuero@gdg-st-nikolaus.de

 

Über den/die Autor/in: Christine Lauter

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Tags: , , , , 0 Kommentare on St. Matthias – I’m still standingVeröffentlicht am: 7. April 2022Zuletzt bearbeitet: 16. Februar 2023967 WörterGesamte Aufrufe: 497Tägliche Aufrufe: 25,1 Minuten Lesezeit

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