Mit „Die Heimat“ gibt der Verein für Heimatkunde in Krefeld e.V. ein lesenswertes Jahrbuch heraus, mit dem auch gebürtige Krefelder noch viel über die eigene Stadt lernen können.

Geschichte, ist das nicht Zeug von gestern, alte Steine und tote Zahlen, für die sich nur noch ein paar schrullige Professoren interessieren? Ist es jetzt nicht wichtiger, die Zukunft zu gestalten und das Vergangene ruhen zu lassen? Was interessieren uns die alten Römer oder die Bauweise barocker Hofanlagen?

Auf Geschichte zu verzichten, mag zunächst modern klingen, hat aber einen Haken. Denn auch wenn man sich explizit dafür entscheidet, im Hier und Jetzt zu leben, ist die Vergangenheit nicht vorbei. Die Gegenwart ist vielmehr wie die Spitze eines riesigen Eisbergs – und verhält sich zur Geschichte wie das Bewusste zum Unterbewussten. Dass unsere unbewussten Anteile auch auf die Gesellschaft einen enormen Einfluss haben, sieht man immer wieder in der Politik, wenn sich Nationen oder Volksgruppen plötzlich wegen Jahrhunderte zurückliegender Konflikte „die Köpfe einschlagen“. Man denke nur an den Jugoslawienkrieg. Aber wir müssen gar nicht so weit zurück gehen und in die Ferne schweifen: Auch in Krefeld wirkt die Geschichte bis zum heutigen Tag nach. So fühlen sich viele Einwohner von Hüls oder Uerdingen nach wie vor nicht als Krefelder, obwohl ihre Wohnorte bereits seit Jahrzehnten zur Stadt gehören und sie lange nach der Eingemeindung geboren wurden.

Zeugnisse der Vergangenheit bewahren

Als der „Verein für Heimatkunde in Crefeld“ im Frühjahr 1918 gegründet wurde, befand man sich in der Endphase des Ersten Weltkriegs, von dessen Fronten der Niederrhein zum Glück einige hundert Kilometer entfernt lag. Trotz oder vielleicht gerade wegen der katastrophalen politischen Lage entschied sich eine Gruppe Krefelder Bürger um den Gymnasiallehrer Dr. Karl Rembert, einen Heimatverein ins Leben zu rufen, um „Zeugnisse der Geschichte“ davor zu bewahren, gedankenlos zerstört zu werden und in Vergessenheit zu geraten. Daher rief man dazu auf, historische Dokumente wie Urkunden, Bilder, Pläne, Zeichnungen und Plakate, aber auch Persönliches wie Tagebücher oder Familienalben sowie alte Trachten, Wappen oder Münzen dem Verein zum Erhalt zur Verfügung zu stellen. Man wollte sich mit „Landesnatur, Wirtschaft und Gesellschaft, Siedlungen, Ausgrabungen, Volkssprache und Volksfesten, Personalien und Bräuchen“ befassen.

Bewusstmachen der Geschichte als Anker für die Gegenwart

Die Gründer des Heimatvereins bewegten dabei nicht nur archivarische Motive und die Idee, ein Heimatmuseum ins Leben zu rufen. Für sie war das Bewusstmachen der Geschichte wohl auch ein Mittel gegen die Auflösung der traditionellen Gesellschaftsordnung, die von den im Kaiserreich aufgewachsenen Bürgern als große Gefahr angesehen wurde. Denn „Wer sich durch Liebe und Arbeit mit dem Heimatboden und seinen Bewohnern – ohne Unterschied des Standes – verwachsen oder verwandt fühlt, der wird kein schwankes Rohr, das durch jedes Partei- und Fremdgeschrei erschüttert wird.“ So beschrieb es Karl Rembert im Vorwort zur 1921 erschienenen Erstausgabe des Jahrbuchs. Dieses „Verwachsen mit dem Heimatboden“ bezog man aber bewusst auf die engere, regionale Heimat: „Es ist das kleinste Vaterland der größten Liebe nicht zu klein. Je enger es dich rings umgibt, je näher wird’s dem Herzen sein“, heißt es ebenfalls im Vorwort.

In 100 Jahren hat sich Krefeld grundlegend verändert

Dr. Julia Obladen-Kauder, Vorsitzende des Verein für Heimatkunde in Krefeld e. V.
Vorstandsvorsitzende Dr. Julia Obladen-Kauder

Seit im Jahr 1921 – also vor 100 Jahren – die erste Ausgabe von „Die Heimat“ erschien, wurde mit Ausnahme der Jahre 1941 bis 1949 jedes Jahr ein Krefelder Jahrbuch veröffentlicht, anfangs vier Hefte pro Jahr. Zuletzt erschien im Herbst 2020 der Jahrgang 91. In den 100 Jahren seit 1921 haben sich Stadt und Gesellschaft grundlegender verändert, als es sich die Vereinsgründer damals vorstellen konnten. Allein die Stadtgestalt hat sich in den vergangenen 100 Jahren mindestens so radikal gewandelt wie während der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert – sei es durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs oder durch die intensive Bautätigkeit der Nachkriegszeit. Und auch die Einwohnerschaft des heutigen Krefelds ist deutlich vielfältiger als kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Zu den Zuwanderern der Industrialisierung kamen nach 1945 vertriebene Ostdeutsche, bald darauf Gastarbeiter aus Südeuropa und der Türkei und seither Menschen aus über 150 Nationen. Umso spannender ist es für historisch Interessierte, Geschichten aus dem „alten Crefeld“ zu lesen und Informationen aus der langen Geschichte unserer Stadt zu bekommen.

Das inoffizielle Geschichtsbuch der Seidenstadt

Parallel zur fortschreitenden Veränderung der Stadt haben sich die Inhalte der Heimat-Jahrbücher in den letzten Jahrzehnten immer wieder angepasst – so wie sich auch die Intentionen der Macher gewandelt haben. Zugleich hat die Ausrichtung eine gewisse Konstanz. Immer noch ist „Die Heimat“ so etwas wie ein inoffizielles Geschichtsbuch der Seidenstadt. „Wer etwas Geschichtliches über Krefeld recherchieren möchte, wird in ‚Die Heimat‘ fast immer fündig“, ist der aktuelle Schriftleiter Stefan Kronsbein überzeugt. „Es gibt im Prinzip kein noch so abseitiges Thema, das hier noch nicht behandelt worden ist. Und da alle Jahrgänge im Stadtarchiv und anderen städtischen Einrichtungen gesammelt sind, besteht ein quasi öffentlicher Zugriff auf dieses Wissen.“ Auch die neueste Ausgabe des Krefelder Jahrbuchs bestätigt die historisch-kulturelle Ausrichtung der Publikation. Archäologie, Geschichte, Städtebau und Baugeschichte, Religion und Kirche, Sprache und Literatur, Kunst und Kultur sowie Technik lauten die Rubriken. Wobei unter „Geschichte“ die meisten Artikel zu finden sind. Dazu kommt die Sammelrubrik „Aus dem Heimatleben“, aus der vor allem die jährlich wiederkehrende Jahresübersicht „Von Oktober zu Oktober“ heraussticht.

Beste deutsche Heimatzeitschrift

Stefan Kronsbein ist Schriftleiter für "DIE HEIMAT"
Schriftleiter Stefan Kronsbein

Unter diesen wiederkehrenden Themenblöcken sammelt sich ein wahrlich bunter Strauß unterschiedlichster Geschichten und Dokumentationen. So befassen sich Autorinnen und Autoren ebenso mit Krefelder Bauernhäusern des 16. Jahrhunderts und Bodendenkmälern im Forstwald wie mit der Krefelder Bestsellerautorin Ulrike Renk oder referieren über 70 Jahre Grundgesetz. Neben „hochkulturellen“ Themen stehen Alltagserzählungen von Krefelder Bürgerinnen und Bürgern – zum Beispiel über jugendliche Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg oder die Krefelder Musikschule in der Nazizeit. Wichtig ist den Herausgebern des Jahrbuchs der wissenschaftliche Anspruch der Veröffentlichungen aber auch die populärwissenschaftliche Lesbarkeit. „Wir verlangen von unseren Autoren, korrekt zu zitieren und Quellen auf wissenschaftliche Weise zu belegen“, betont Schriftleiter Stefan Kronsbein. „Artikel aus dem Jahrbuch sollen für eine seriöse Geschichtsforschung nutzbar sein. Was der Lebendigkeit der Inhalte keinen Abbruch tun soll. Wir möchten, dass ‚Die Heimat‘ eine breite Leserschaft findet. Dass wir das seit Langem gut hinbekommen, zeigt vielleicht, dass unser Jahrbuch schon in den neunziger Jahren vom Deutschen Heimatbund als beste deutsche Heimatzeitschrift prämiert wurde.“

Ein Produkt ehrenamtlichen Engagements

Möglich wird dieser Erfolg durch die unermüdliche Arbeit des ehrenamtlichen Vorstands des Vereins für Heimatkunde in Krefeld und das Engagement einer Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Unterstützung erhielt der Verein von Beginn an durch das geschichtsinteressierte Krefelder Bürgertum. „Im Bildungsbürgertum gehörte es immer schon zum guten Ton, Mitglied im Verein für Heimatkunde zu sein“, erinnerte sich Dr. Julia Obladen-Kauder, die aktuelle Vorsitzende. Als promovierte Archäologin ist sie auch beruflich eine „klassische“ Vertreterin der ehrenamtlichen Heimatkundler. Unter den Vorständen, Kassenwarten und Schriftleitern des Vereins finden sich eine Vielzahl von Lehrern, Museumsleitern und Historikern. Vereinsgründer Dr. Karl Rembert war Gymnasiallehrer. Der Nachkriegsvorstand, Franz Heckmanns, fungierte als Schulrat, und sein Nachfolger Dr. Reinhard Feinendegen leitete viele Jahre das Gymnasium Horkesgath. Der aktuelle Schriftleiter, Stefan Kronsbein, betreibt einen Fachverlag für historische und naturkundliche Literatur und ist seit 2018 Vorsitzender des Regionalverbandes Niederrhein des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz. Ein Novum der Vereinsgeschichte ist allerdings, dass mit Julia Obladen-Kauder seit 2018 zum ersten Mal eine Frau den Vereinsvorsitz hat und zugleich die Hälfte des Vorstandes weiblich ist.

Mitmachen erwünscht

Im 100. Jahr des Krefelder Jahrbuchs, möchte der Vorstand des Vereins für Heimatkunde nicht nur mehr Frauen in seine Arbeit einbeziehen, sondern auch mehr junge Menschen für die Geschichte der eigenen Stadt begeistern. „Ich selbst bin 1957 geboren, mein Kollege Stefan Kronsbein ist Jahrgang 1953, und die überwiegende Mehrzahl unserer Mitglieder ist mindestens über 50“, erklärt die Vorsitzende. „Unser Ziel ist es, die Vereinsarbeit auf eine breitere Basis zu stellen – und neue Zielgruppen zu erreichen. Dazu zählen auf jeden Fall die junge Generation und gerne auch Menschen mit Migrationshintergrund.“ Um dies zu erreichen, wurden Inhalte, Layout und Typografie des Jahrbuchs immer an den Lesegewohnheiten und Wünschen der Leserschaft orientiert. Schon Vereinsgründer Dr. Rembert strebte an, dass die Publikationen seines Vereins nicht nur inhaltlich überzeugen, sondern auch optisch gefallen. Das moderne Gesicht des Krefelder Jahrbuchs zeigt sich seit 1972 in farbigen Einbänden. Seit 2017 erscheint das Buch im Hardcover. Der neuesten Ausgabe liegt ein Bastelbogen zum Krefeld der frühen Neuzeit bei.

„Wir freuen uns über jedes Engagement. Wer ein spannendes Thema hat und etwas darüber schreiben oder uns dazu einen Tipp geben möchte, soll uns gerne kontaktieren“, betont Julia Obladen-Kauder. „Für nur 25 Euro im Jahr kann man bei uns Mitglied werden, bekommt das Jahrbuch umsonst und hat auf unserer Internetseite Zugriff auf fast alle historischen Ausgaben. Das Jahrbuch erscheint immer kurz vor Weihnachten und kann in verschiedenen Buchläden, dem Haus der Seidenkultur und dem Krefelder Stadtarchiv erworben werden. Genaue Infos gerne auf Anfrage!“

Verein für Heimatkunde in Krefeld e.V
Dr. Julia Obladen-Kauder
info@heimat-krefeld.de
www.heimat-krefeld.de

Über den/die Autor/in: Michael Otterbein

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Tags: , , , 0 Kommentare on Neues aus der VergangenheitVeröffentlicht am: 18. Mai 2021Zuletzt bearbeitet: 16. Februar 20231494 WörterGesamte Aufrufe: 529Tägliche Aufrufe: 17,7 Minuten Lesezeit

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