Mitten im beschaulichen Hüls, in einem Altbau aus dem Jahr 1907, lebt und arbeitet Xianwei Zhu. Der gebürtig aus Qingdao stammende Maler hat sich mit seiner Frau Yi Sun und Kind vor knapp zwei Jahren hier nieder-gelassen. Und er wirkt angekommen. Freundlich lächelnd öffnet er die Tür seiner Wohn- und Arbeitsstätte und führt uns durch den geräumigen Flur an einen liebevoll gedeckten Tee- und Kaffeetisch inmitten eines gemütlichen Wohnzimmers, hinter dessen großer Fensterfront orange Blätter durch den herbstlichen Garten wehen. Die Gerüche von Kaffee und Yasmintee vermischen sich im Raum. Ein Duft, der sich im Zuge dieses Treffens zur Metapher für das Lebensmodell des Künstlers entwickeln wird.
Für Xianwei Zhu stand sein kreativer Werdegang schon früh fest. Während die meisten Kinder sich im Laufe des Erwachsenwerdens vielfach umentscheiden, wusste er bereits mit zwölf Jahren, dass er Pinsel und Leinwand nicht gegen einen konventionellen Arbeitsplatz würde tauschen wollen. „Ich habe immer schon gerne gemalt und gezeichnet. Und irgendwann hat meine Mutter das gesehen und gesagt: ‚Gut, dann suchen wir für dich einen Lehrer.‘ Da hatte ich Glück. Unser Nachbar war Zeichenlehrer“, erinnert sich der heute 49-Jährige, während wir an unseren Teeschalen nippen. Nach abgeschlossener Schulausbildung studiere Xianwei erst Kunsterziehung an der Hochschule Shandong und Malerei an der Kunstakademie Hangzhou in China. Anschließend war er drei Jahre lang als Lehrer tätig. Der Job habe ihn schnell gelangweilt, gibt der kreative Feingeist zu. Er habe etwas Neues kennenlernen wollen. Ohne sprachliche Vorkenntnisse zieht es den neugierigen jungen Mann nach Deutschland, zunächst nach Saarbrücken, dann zum Aufbaustudium der freien Malerei nach Stuttgart, an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste.
„In der Malerei kann man immer etwas Neues entdecken. Das wird nie langweilig“, beschreibt er. „Ich finde, Malerei hat viel mit Gefühl, mit Sinnlichkeit zu tun. In vielen anderen Kunstformen geht es vor allem um konzeptuelles Arbeiten. Das ist nicht mein Weg. Ich bin kein ‚planender‘ Maler. Ich mache Prozessmalerei. Ich fange von Null an, und dann kommt etwas.“ Eine Richtung gebe es natürlich schon. Xianwei Zhu sammelt unterwegs in der Natur Stimmungen, innere Bilder, die er zu einem späteren Zeitpunkt auf die Leinwand bringt. Regelmäßig trifft er sich zum Wandern mit Stuttgarter Freunden. Das gehört zu seinem Arbeitsalltag.
Natur und Literatur als geistige Energiequellen
Nach zwei Schalen Tee führt uns Xianwei in sein Atelier. Ein großer rechteckiger Raum mit vier großen Fenstern, einem riesenhaften Schreibtisch und einem Arbeitstisch voller Acrylfarbe. Der Boden ist mit dickem Papier ausgelegt und übersät von bunten Farbspritzern. An den Wänden lehnen und hängen dutzende Bilder. Drei große Formate – die frischsten Arbeiten des Künstlers – werden, sofern Corona sich der Planung nicht in den Weg stellt, im kommenden Jahr im Krefelder Kunstverein und der Haak Art Gallery ausgestellt. Es sind wie erwartet Naturszenen: schemenhafte Flusslandschaften in gedecktem Blau, Grün und Grau, die das Auge zum Teil nur erahnen kann. In seiner Malerei bewegt sich Xianwei Zhu stets zwischen Figuration und Abstraktion. Die Gemälde wirken ruhig und dennoch dynamisch – wie Gedichte aus Farben. Und das kommt nicht von ungefähr.
Ein Blick auf Xianweis Arbeitstisch lässt bereits eine gewisse Affinität erahnen: dutzende Bücher stehen hier gestapelt und aneinandergereiht. Große, schwere Kunstbücher, aber auch Lyrikbände und philosophische Fachliteratur. Auch das Lesen ist Teil seines Arbeitsalltags. „Gedichte von Hanshan und Hölderlin sind für meine Gedanken- und Gefühlswelt wichtig“, verrät Xianwei. „Und ich beschäftige mich viel mit Philosophie wie dem Taoismus, dem Buddhismus und der Denkschule von Martin Heidegger. Das hilft mir, in der Malerei tief zu gehen.“ Besonders der chinesische Zen-Dichter Hanshan hat es Xianwei angetan. Dessen Gedichte finden sich auch auf der Website des Künstlers wieder. „Hanshan war ein Mönch, der hat in einer Höhle gewohnt und Gedichte geschrieben, war total arm. Aber er war erleuchtet. Durch diese Gedichte bin ich zur Landschaft gekommen“, beschreibt er. In den Texten Hanshans ist vielfach von einem Wanderer in der Einsamkeit der Natur zu lesen. Träumerische Szenerien werden beschrieben, von den Phänomenen, denen er auf seinem Weg begegnet oder zu begegnen glaubt. Obwohl sehr kurz und reduziert, rufen die Gedichte beim Lesen starke Bilder und Stimmungen hervor. Darin ähneln sich Dichter und Maler in ihrer Ausdrucksweise.
Zwischen Figuration und Abstraktion. Zwischen China und Europa.
„Ich verstehe mich als einen Wanderer. Zwischen den Kulturen Deutschland und China, aber auch im örtlichen Sinne: Stuttgart, Krefeld, Qingdao, Yunnan, Peking. Das fließt in meine Arbeit ein“, erklärt Xianwei. Beim Malen vereint er deshalb auch chinesische und europäische Traditionen. Merkmale der alten chinesischen Landschaftsmalerei finden sich ebenso wieder wie Anklänge der europäischen Romantik, geprägt durch Caspar David Friedrich oder William Turner. Gemeinsam haben beide Einflüsse, dass sie sich mit Innerlichkeit auseinandersetzen. Während in der traditionellen Chinesischen Malerei eine „innere Abbildung“ der Landschaft gezeichnet wird, wie Xianwei erzählt, so fließen in der europäischen Romantik mit der Natur verknüpfte Gefühle in die Malerei ein, die das Sujet beeinflussen und die Landschaft metaphorisieren. Typisch für die chinesische Zeichentradition sind auch Auslassungen auf dem Bild. „Die Leere spielt in meinen Bildern auch eine große Rolle. Oft ist in der Mitte ein leerer Raum. Für die chinesische Landschaftsmalerei sind Ferne und Leere wichtig. Wasser und Luft werden hier traditionell nicht gemalt, die muss der Betrachter sich denken. Das erzeugt Weite“, erklärt er und führt uns hinter den Schreibtisch, um ein Beispielbild zum Vergleich zu zeigen. „In meinen Landschaftsbildern sind auch Gefühle wichtig. Kopf ausschalten, Gelassenheit. Die Natur ist unsere gemeinsame Wurzel. Das ist wohl gerade in der heutigen digitalen Zeit sehr wichtig. Ich möchte durch das Malen und die Verbindung zur Natur den Weg zum inneren Ich finden. So hat Malerei einen Sinn für mich, das ist mein Lebenswerk.“
Doch nicht immer geht es in Xianwei Zhus kreativem Alltag so ruhig und kontemplativ zu. Manchmal macht der Künstler auch Performances. Dabei bewegt er sich auf gigantischen Leinwänden und versinkt ganz und gar in impulsiver Malerei. „Da vergesse ich das Ziel. Gleichzeitig muss ich aber eine hohe Konzentration aufbringen. Das ist an-strengend und kostet geistig viel Energie, macht aber auch Spaß“, beschreibt er und hält fröhlich den großen schweren Tuschepinsel hoch, den er dafür benutzt.
Dann holt er einige große Blätter hervor und zeigt die Bewegungsabläufe. Spontaner Aktionismus kommt auf, und prompt wird aus dem vorher so bedächtigen Interview eine ausgelassene kleine Malstunde. Wir versuchen uns unter Xianweis motivierender Anleitung an Kopfweiden – passend zum Landschaftsthema. „Ah, sehr gut!“, lobt er, als wir unsere spontanen Einfälle aufs Papier gebracht haben. Nach dem kleinen Exkurs zum Abschluss bringt Yi noch eine Runde heiße Getränke ins Atelier. Diesmal entscheiden wir uns für einen Kaffee.
Am nächsten Abend kommen via WhatsApp Fotos auf meinem Handy an. Auch Xianwei hat Kopfweiden gemalt. Wir hätten ihn inspiriert, schreibt er. Das kann ich nur zurückgeben. Als seine Nachricht eintrifft, bin ich online gerade auf der Suche nach Tusche und Pinseln…
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